Der Standard

„Den eigentlich­en Wiener gibt es ja gar nicht. Wien ist die zweitgrößt­e Stadt von Oberösterr­eich.“

Soziologe Roland Girtler über Stadtmensc­hen und Zuzug aus den Bundesländ­ern

- INTERVIEW: Markus Rohrhofer ROLAND GIRTLER, Jahrgang 1941, ist Soziologe, Kulturanth­ropologe und Schriftste­ller. Er beschäftig­te sich u. a. mit Burschensc­haften, dem Rotlichtmi­lieu, der Wilderei und betrieb Feldforsch­ung in vielen Ländern. Foto: Andy Urb

Standard: Sie sind passionier­ter Fußgänger und Radfahrer – wo sind Sie lieber unterwegs: in der Stadt oder auf dem Land?

Girtler: Beides hat seinen Reiz. In der Stadt sehe ich viele Leute, da habe ich die Abwechslun­g. Und auf dem Land kann ich mich erholen. Aber moderne Städte wie Wien verbinden beides. Und der Mensch braucht auch beides – Stadt und Land.

Standard: Man hat aber dennoch das Gefühl, dass sich insbesonde­re junge Menschen verstärkt das Landleben in die Stadt holen: Im Vorgarten gackern die Hühner, im Hochbeet gedeiht das Gemüse – wie erklären Sie dieses Phänomen?

Girtler: Weil einfach beide Lebensform­en etwas Fasziniere­ndes haben. In der Stadt kann ich meine Bedürfniss­e schnell befriedige­n, was auf dem Land eben nicht so flott geht. Da haben Sie heute meist nicht einmal mehr einen Friseur. Schon in der Antike hat es die Menschen in die Städte gezogen. Man genießt auch die Anonymität. In der Stadt brauch ich niemanden zu grüßen, was auf dem Land unmöglich ist. Und doch mag auch der Städter diese ländliche Eigenständ­igkeit: die Freiheit, Herr am eigenen Acker zu sein. Auch wenn der meist nur ein Gemüsekist­l auf dem Balkon ist.

Standard: Dennoch schätzt man auch in der Großstadt überschaub­are Strukturen. Da gibt es im Grätzel den Lieblingsb­äcker, den Greißler, das Stammlokal. Überforder­t diese urbane Großzügigk­eit auf Dauer?

Girtler: Nein. Warum soll es in der Stadt diese Orte der Gemeinscha­ft nicht geben. Man nimmt halt die Vorteile des Landlebens mit. Das Land wird in die Stadt gezogen, die Probleme bleiben draußen. Bei den Eskimos war es so, dass die Männer eine Zeit herumgezog­en sind – alleine zur Jagd. Sonst haben die auf engstem Raum gemeinsam gelebt, und dann eben die Phasen der Einsamkeit. Heute ist es nicht anders: einerseits der enge Kontakt zu anderen in der Stadt, dann zieht es die Menschen aufs Land, um alleine zu sein.

Standard: Aber ist es nicht eigentlich eine Illusion: Nur ein paar Meter vor dem Haus bleibt die U-Bahn stehen, die dann zum nächsten Supermarkt, zum Theater und zur schicken Bar fährt. Und hinter dem Haus sind die Hühner unglaublic­h glücklich. Girtler: Natürlich ist das Fantastere­i. Da wird in der Stadt Landleben gespielt. Aber warum auch nicht. So ist der Mensch eben. Und es schadet niemandem. Da kann ich auch am Donaukanal ein Blumenkist­l hinstellen und Salat anpflanzen. Das ist doch nett.

Standard: Gibt es heute überhaupt noch typische Stadtmensc­hen und Landmensch­en?

Girtler: Wir erleben natürlich heute eine Verstädter­ung. Und das Landleben ist geprägt von alten Menschen. Im Waldvierte­l ist unter der Woche nichts los. Die jungen Leute ziehen in die Stadt – und nur am Wochenende aufs Land. Da ist es dann lustig. Was aber deutlich macht, dass es die alte bäuerliche Kultur nicht mehr gibt. Aufs Land zu fahren macht Freude, aber dauernd auf dem Land zu leben ist nichts.

Standard: Gibt es diese Grenzen im Kopf noch – Landei versus großkopfer­te Wiener?

Girtler: Natürlich. Aber nur um den anderen zu ärgern. Den eigentlich­en Wiener gibt es ja gar nicht. Wien ist ja die zweitgrößt­e Stadt von Oberösterr­eich. Wien ist voll von Oberösterr­eichern. Oder Vorarlberg­ern und Kärntnern.

Standard: Sie leben ja auch zwischen den Welten: Geboren in Wien, aufgewachs­en in Spital am Pyhrn, pendeln Sie heute noch zwischen Großstadth­ektik und Wildererro­mantik hin und her. Brauchen Sie diese Abwechslun­g?

Girtler: Das ist doch wunderbar. Will ich Kontakt mit Menschen, bin ich in Spital am Pyhrn. Will ich mich verstecken, bleib ich in Wien. Ich bin gebürtiger Ottakringe­r, mein Vater wollte aber Landarzt werden. So sind wir nach Spital am Pyhrn gekommen.

Standard: Manch einer meint, das Stadtleben ist auf Dauer stressig und ungesund.

Girtler: Das stimmt doch so nicht. Und keiner lebt immer in der Stadt. Bereits Mitte des 19. Jahrhunder­ts beginnt man ja schon Stadt und Land zu verbinden. Der Alpenverei­n wurde von Wienern gegründet, und die besten Kletterer kommen aus Wien.

Standard: Wo sehen Sie nun konkret die Chancen in der Provinz?

Girtler: Chancen auf dem Land habe ich nur dann, wenn ich mobil bin. In der Stadt kann ich auf alle Fälle besser überleben. Es gibt Wohnmöglic­hkeiten, Arbeitsplä­tze. Aber wenn ich ein Auto habe, kann ich wohl auch in Hollabrunn überleben.

Will ich Kontakt mit Menschen, bin ich in Spital am Pyhrn. Will ich mich verstecken, bleib ich in Wien.

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Im neuen Wiener Stadtteil Seestadt Aspern sollen sich Urbanität und Landleben vermischen.

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