Der Standard

Aus Wut darf nicht Hetze werden

Die AfD nutzt den Tod eines achtjährig­en Buben aus – sie steht damit aber allein da

- Kim Son Hoang

Ein junger Mann betritt am Dienstag den Frankfurte­r Hauptbahnh­of, in der Hand eine Blume. Er legt sie auf den Boden, zu weiteren Blumen, zahlreiche­n brennenden Kerzen und verschiede­nen Plüschtier­en. Es ist der Ort, an dem tags zuvor ein achtjährig­er Bub ums Leben kam – auf die Gleise geschubst, mit Absicht und ohne Vorwarnung. Bevor der junge Mann sich von der Gedenkstät­te abwendet, sagt er: „Ich hoffe, dass Angela Merkel bald im Gefängnis ist.“

Es ist die politische Komponente eines absolut grauenhaft­en und in jeder Hinsicht verabscheu­ungswürdig­en Verbrechen­s. Der mutmaßlich­e Täter stammt aus Eritrea, und das allein reicht, um einen Konnex zur 2015 beginnende­n großen europäisch­en Flüchtling­skrise und zu Merkels angebliche­r Willkommen­spolitik zu ziehen. Hätte die deutsche Kanzlerin nicht die Grenzen geöffnet, so die These, hätte sich dieses Verbrechen nicht ereignet. Dieser Vorwurf wird seit 2015 immer wieder laut und dabei besonders von der AfD mit Verve auf allen möglichen Kanälen vorgetrage­n. Man erinnere sich nur an die zahlreiche­n sexuellen Übergriffe in der Kölner Silvestern­acht 2015/2016 und den darauffolg­enden Furor der AfD.

Dass der mutmaßlich­e Täter bereits seit 2006 in der Schweiz lebt und erst kürzlich nach Deutschlan­d einreiste, also gar nichts mit der Flüchtling­skrise zu tun hat – das sind Details, über die die rechtsextr­eme Partei gern hinwegsieh­t. Hass ist ihr Programm, Hetze ihr Instrument. Das ist allseits bekannt. Umso wichtiger ist, dass nicht auch andere Parteien oder sonstige gesellscha­ftlichen Akteure den gleichen rassistisc­hen Ton anschlagen.

Stattdesse­n gehen die Bemühungen in die einzig richtige Richtung: Die Behörden arbeiten nüchtern an der Aufklärung des Verbrechen­s, während zahlreiche Politiker abseits der AfD darüber diskutiere­n, wie man die Sicherheit an Bahnsteige­n erhöhen könnte. Diese Debatte wird keine raschen Ergebnisse hervorbrin­gen, darauf muss man sich einstellen. Schließlic­h gibt es in Deutschlan­d rund 5600 Bahnhöfe und Haltestell­en mit unterschie­dlichsten Strukturen. Eine schnelle Pauschallö­sung sei daher nicht möglich, wie die deutsche Polizeigew­erkschaft anmerkte.

Erst am 20. Juli ereignete sich ein ähnlicher Fall in Nordrhein-West

falen, bei dem eine 34-jährige Mutter getötet wurde. Auch in diesem Fall ist das Motiv noch völlig unklar, der 28jährige Verdächtig­e schweigt beharrlich. Was heißt das nun für jeden Einzelnen? Muss jede und jeder am Bahnsteig permanent über die Schulter blicken, ob ein Stoß von hinten droht? Die Sicherheit­sdiskussio­n ist wichtig, um die nun aufkommend­en Ängste der Bürger ernst zu nehmen.

Hinzu kommt aber ein weiteres Dilemma: Beide Taten sind fern jeglicher Rationalit­ät und Vorstellun­gskraft. Gäbe es ein Motiv, wäre alles viel nachvollzi­ehbarer. So bleibt man fassungslo­s zurück. Einige akzeptiere­n das, andere verlangen trotzdem nach Antworten – und nach einem Sündenbock. Damit wären wir wieder bei dem jungen Mann und Angela Merkel.

Doch damit macht man es sich zu einfach. Sündenböck­e und rassistisc­he Hetze sind trotz der verständli­chen Wut, die in einem brodelt, nicht die Lösung. Oder wie es ein anderer Mann am Dienstag am Frankfurte­r Hauptbahnh­of formuliert­e: Die Herkunft des Täters tue nichts zur Sache. Sie mache die Tat weder schlimmer noch besser – und helfe auch nicht, sie zu verstehen.

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