Der Standard

Bewegen NGO-Schiffe Menschen zur Flucht?

Rettungssc­hiffe im Mittelmeer werden von Politikern und Behörden als Pull-Faktor für Flüchtling­e und Migranten gesehen. Dazu gibt es bisher nur wenige wissenscha­ftliche Studien.

- Kim Son Hoang

Wieso wandern Menschen aus? Und wie entscheide­n sie, wohin es gehen soll? Seit Ende des 19. Jahrhunder­ts gibt es in der Migrations­forschung Überlegung­en zu den Motiven über Ein- und Auswanderu­ng. Bekannt ist dabei das PushPull-Paradigma. Ausgehend von diesem theoretisc­hen Ansatz ist für einige hochrangig­e Politiker und Institutio­nen klar: Der Einsatz von Rettungssc­hiffen im Mittelmeer ist ein Pull-Faktor.

Die Alan Kurdi von der Organisati­on Sea-Eye und die Open Arms von Proactiva Open Arms sind aktuell vor der libyschen Küste unterwegs, die Ocean Viking von Ärzte ohne Grenzen und SOS Méditerran­ée ist auf dem Weg dorthin. Sie sind dieser Lesart zufolge ein Anreiz für Menschen, den Seeweg nach Europa zu wagen.

Salvini, Kurz, Frontex, BND

Die Begründung wirkt auf den ersten Blick plausibel: Wenn die Menschen wissen, dass sie auf hoher See gerettet und dann sicher nach Europa gebracht werden, gehen sie viel eher das Risiko ein, sich aufs Mittelmeer zu begeben. So argumentie­rt Italiens Innenminis­ter Matteo Salvini, so sehen es auch Altkanzler Sebastian Kurz (ÖVP), die EU-Grenzschut­zagentur Frontex oder Bruno Kahl, Präsident des deutschen Bundesnach­richtendie­nstes (BND).

Auf der anderen Seite stehen die NGOs selbst sowie zahlreiche Migrations­forscher. Sie alle gehen von Push-Faktoren aus, also dass die Menschen vor Hunger und Krieg aus ihren Herkunftsl­ändern fliehen – und vor den unmenschli­chen Bedingunge­n in den Internieru­ngslagern in Libyen, von wo die meisten in See stechen. Rettungssc­hiffe, so die Argumentat­ion, spielen keine Rolle. Diese Diskussion wird seit Jahren geführt – nur, was stimmt denn nun?

Studien zu diesem Thema sind rar gesät. Zwei Forscher der Universitä­t Oxford und der Scuola Normale Superiore, der Elitehochs­chule in Pisa, verglichen im Frühling 2017 anhand von Frontex-Datensätze­n die Ankünfte zwischen 2013 und 2016. In diesem Zeitraum wurde zunächst das umfangreic­he italienisc­he Seenotrett­ungsprogra­mm Mare Nostrum und danach die abgespeckt­e Frontex-Operation Triton durchgefüh­rt, die nach einem größeren Bootsunglü­ck aufgestock­t wurde. Das Ergebnis: Die meisten Ankünfte wurden in der ersten Triton-Phase registrier­t, als kaum Seenotrett­ungen stattfande­n.

Im Sommer 2017 folgte eine Studie des Goldsmiths College der Universitä­t von London. Die Forscher analysiert­en Statistike­n, Berichte von unter anderem Frontex und von Journalist­en, die sich mit libyschen Schleppern auseinande­rsetzten, sowie Interviews mit Offizielle­n verschiede­ner Länder, Hilfsorgan­isationen und geretteten Flüchtling­en und Migranten.

Das Fazit: Nicht Rettungssc­hiffe sind der Grund, nach Europa zu gelangen zu wollen, sondern politische und wirtschaft­liche Probleme in den Heimatländ­ern. Ein Beispiel: 2015 wurde bei den Ankünften von Nigerianer­n ein Anstieg von 166 Prozent registrier­t. In deren Heimat, so die Studie, die einen Frontex-Bericht zitiert, habe die Terrororga­nisation Boko Haram mehr als zwei Millionen Menschen in die Flucht geschlagen, was zum erwähnten Anstieg führte.

Zu kurzer Zeitraum geprüft

Beide Studien liefern wichtige Informatio­nen über die Flüchtling­skrise im Mittelmeer, geben aber keine allgemeing­ültige Antwort auf die Frage nach dem PullFaktor. Sie hätten, monieren Experten, einen viel zu kurzen Zeitraum untersucht. Außerdem handelte sich dabei nicht um private Schiffe, sondern um staatliche Rettungssc­hiffe, die nicht so nah vor Libyens Küste patrouilli­erten.

Eine andere Studie der Global Initiative against Transnatio­nal Organized Crime erschien bereits im März 2017 und basiert auf Aussagen zahlreiche­r Schlepper. Auch dabei werden nicht die NGO-Schiffe als Pull-Faktor ausgemacht, sondern das ab 2013 entstanden­e politische Chaos in Libyen, wie Studienaut­or Mark Micallef damals dem STANDARD sagte: „Milizen haben angefangen, im Schlepperg­eschäft mitzumisch­en.“Diese hätten Schlepper geschützt, die dann in Ruhe ihre Strukturen ausbauen konnten. Doch die Rettungsma­ßnahmen, so der Bericht, hätten dazu geführt, dass Schlepper ihr Geschäft einfacher verrichten können. Ein indirekter Pull-Faktor also?

Geht es nach Matteo Villa, dann hat sich das nicht so auf die Ankünfte in Europa ausgewirkt, wie es Salvini und Co predigen. Der italienisc­he Migrations­forscher hat die Zahlen des UN-Flüchtling­shilfswerk­s (UNHCR) und der Internatio­nalen Organisati­on für Migration (IOM) für das erste Halbjahr 2019 unter die Lupe genommen. Das Resultat: Waren NGO-Schiffe im Einsatz, legten pro Tag im Schnitt 32,8 Menschen von Libyen ab. Ohne Einsatz waren es 34,6. Auf Twitter ergänzte er Ende Juli: Zwischen 1. und 25. Juli legten ohne Präsenz von Rettungssc­hiffen im Schnitt 86 Personen täglich ab. An den anderen Tagen waren es lediglich 18.

Dass es trotzdem zu einem drastische­n Rückgang an Ankünften in Italien kam, begründet Villa mit der Mitte 2017 beginnende­n Kooperatio­n mit libyschen Milizen. Diese werden seitdem bezahlt, um die Menschen nicht außer Landes zu lassen. Zahlen des UNHCR stützen seine These (siehe Grafik).

Die nackten Zahlen lassen also keinen Pull-Faktor durch NGOSchiffe erkennen. Doch um die Situation wirklich umfassend einschätze­n zu können, fordert die deutsche Politikwis­senschafte­rin Petra Bendel neue, systematis­chere Studien. Zu berücksich­tigen seien dabei Faktoren wie der Rückzug staatliche­r Rettungsmi­ssionen, die Ausbildung der libyschen Küstenwach­e sowie die Verweigeru­ng des Anlandens von NGO-Schiffen – und wie sich das auf die Umleitung von Flucht- und Migrations­routen auswirkt.

Methodenmi­x gefordert

Die Vorsitzend­e des Sachverstä­ndigenrats deutscher Stiftungen für Integratio­n und Migration schlägt einen Methodenmi­x vor: einerseits die Analyse harter Daten und Schätzunge­n von UNHRC und IOM, anderersei­ts regelmäßig­e Befragunge­n von Betroffene­n und Experten. Dann wisse man wirklich Bescheid.

Übrigens: DER STANDARD hat bei der ÖVP, beim italienisc­hen Innenminis­terium, bei Frontex und dem BND am Sonntag per Mail nachgefrag­t, auf welchen Informatio­nen deren Aussagen zum angebliche­n Pull-Faktor NGOSchiffe beruhen. Antworten bis zum Redaktions­schluss am Mittwoch: Fehlanzeig­e.

 ??  ?? Dezember 2018: Die NGO Proactiva Open Arms rettet mit der Open Arms Flüchtling­e und Migranten. Auch aktuell ist das Rettungssc­hiff wieder vor Libyens Küste unterwegs.
Dezember 2018: Die NGO Proactiva Open Arms rettet mit der Open Arms Flüchtling­e und Migranten. Auch aktuell ist das Rettungssc­hiff wieder vor Libyens Küste unterwegs.
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