Nordiren gegen Johnson
Nach den heiklen Besuchen in Schottland und Wales muss sich der britische Premier in Belfast den Vorwurf gefallen lassen, nicht objektiv zu sein. Auf der Insel befürchtet man schweren wirtschaftlichen Schaden im Fall eines No Deal.
In Belfast wurde der britische Premier Boris Johnson daran erinnert, dass ein ungeordneter Brexit den Frieden mit Irland gefährden könnte.
Zum Abschluss seiner ersten Woche im Regierungsamt hat Boris Johnson am Mittwoch Nordirland besucht. Der Premierminister drängte die Vertreter der fünf größten Parteien in Belfast zur Wiederbelebung der Regionalregierung für die britische Provinz. Zuvor hatte der irische Premier Leo Varadkar seinen Kollegen dazu gemahnt, das Karfreitagsabkommen zu beachten und seine Macht „mit gründlicher Objektivität“auszuüben. Die Chefin der Republikanerpartei Sinn Féin, Mary Lou McDonald, nannte den britischen EU-Austritt „eine erstaunliche Demonstration von wirtschaftlicher und politischer Selbstbeschädigung“.
Sollte der konservative Parteivorsitzende bisher noch nicht gewusst haben, wie stark der von ihm verfolgte Chaos-Brexit („No Deal“) das Land spaltet: Die Reisen der vergangenen Tage haben es bewiesen. In Edinburgh und Cardiff wurde der Neopremier ausgebuht. Den Amtssitz der schottischen Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon verließ er deshalb durch eine Hintertür. Sturgeon nannte Johnsons Vorgehen „gefährlich“, der walisische Erste Minister Mark Drakeford (Labour) tadelte ihn für seinen „nichtssagenden Optimismus“und „mangelnde Detailkenntnisse“.
Nein zum Backstop
Immerhin kamen Schotten, Waliser und Nordiren in den Genuss persönlicher Gespräche mit Johnson, anders als die Regierungschefs der wichtigsten Nachbarn Großbritanniens. Besuche in Berlin, Paris oder Dublin, geschweige denn in Brüssel, werde er erst absolvieren, sagt der Premier, wenn die EU seinem Land einen neuen Austrittsvertrag anbiete. Dieser dürfe keinesfalls die „antidemokratische“Auffanglösung für Nordirland („backstop“) enthalten.
Von der EU wird dies abgelehnt. Und so verbrachte der neue Premierminister in seiner ersten Amtswoche mehr Zeit mit Hühnern als mit seinen wichtigsten Verbündeten. Der Besuch bei einer Geflügelzüchterin nahe Newport sollte der Beruhigung eines Sektors dienen, dessen Marktteilnehmer extrem unruhig sind. Bisher exportieren walisische Bauern Produkte im Wert von jährlich mehr als 6,6 Milliarden Euro in die EU.
Der Handel würde über Nacht unrentabel, weil die EU auf Importe aus Drittländern Abgaben von 40 Prozent erhebt. Ein vertragsloser Crash aus der EU hätte also „katastrophale Folgen“, sagt Helen Roberts vom walisischen Schafzüchterverband: Johnson solle „aufhören, russisches Roulette zu spielen“. Im für Landwirtschaft zuständigen Umweltministerium gibt es bereits Pläne für die Notschlachtung hunderttausender Tiere.
Katastrophe für Wirtschaft
Ähnlich unerfreuliche Aussichten hat auch der Agrarsektor auf der irischen Insel. 37 Prozent der Agrarexporte aus der Republik im Wert von 4,5 Milliarden Euro gehen nach Großbritannien. Wenn sich keine Lösung findet, könnte irisches Lammfleisch über Nacht um 53 Prozent teurer werden; Preise für Milch und Käse, beispielsweise der beliebte Cheddar, würden in die Höhe schnellen.
Immer wieder haben Menschen aus der Grenzregion zwischen der Republik Irland und dem zum Königreich zählenden Nordirland anschaulich geschildert, wie radikal sich ihr Alltag verändern würde, wenn es entlang der derzeit völlig offenen 300 Kilometer langen Grenze zu Grenz- und Zollkontrollen kommt. Eigentlich will das niemand, so beteuern es jedenfalls die beiden Regierungen ebenso wie die EU.
Doch Johnsons eiserne Gegnerschaft gegenüber dem Backstop macht den No Deal immer wahrscheinlicher. Ab Allerheiligen droht den Iren also genau jene Situation, die man doch gerade vermeiden wollte: Zoll- und Grenzkontrollen – und damit garantiert wirtschaftlicher Schaden sowie möglicherweise ein Aufflammen des Konflikts zwischen Katholiken und Protestanten, den der gemeinsame Friedensvertrag vom Karfreitag 1998 beilegen sollte.
Glaubwürdigkeit verloren
Varadkars dezidierter Hinweis auf den internationalen Vertrag verdeutlicht die rapide Abkühlung des Verhältnisses zwischen London und Dublin. Seit sich Johnsons Vorgängerin Theresa May zum Machterhalt von den zehn Unterhausabgeordneten der erzkonservativen Protestantenpartei DUP unterstützen ließ, haben die Tories bei den nordirischen Nationalisten sowie in Dublin jede Glaubwürdigkeit als „ehrlicher Makler“verloren. Am Dienstag, sechs Tage nach Amtsantritt, telefonierte Johnson mit Varadkar. Abends saß er stundenlang mit DUP-Vertretern unter Leitung der Parteichefin Arlene Foster beim Essen zusammen.
Dabei haben 56 Prozent der Nordiren gegen den Brexit votiert, jüngste Umfragen suggerieren gar eine Zweidrittelmehrheit. Bei der Europawahl verloren die Protestantenparteien ein Mandat an die überkonfessionelle Allianzpartei. Sinn-Féin-Chefin Mary LouMcDonald, deren Partei die Ausübung ihrer sieben Unterhausmandate verweigert, mahnt etwas an, was im Karfreitagsabkommen ausdrücklich vorgesehen ist: „Es wird Zeit, über die Wiedervereinigung Irlands abzustimmen.“