Der Standard

Nordiren gegen Johnson

Nach den heiklen Besuchen in Schottland und Wales muss sich der britische Premier in Belfast den Vorwurf gefallen lassen, nicht objektiv zu sein. Auf der Insel befürchtet man schweren wirtschaft­lichen Schaden im Fall eines No Deal.

- Sebastian Borger aus London

In Belfast wurde der britische Premier Boris Johnson daran erinnert, dass ein ungeordnet­er Brexit den Frieden mit Irland gefährden könnte.

Zum Abschluss seiner ersten Woche im Regierungs­amt hat Boris Johnson am Mittwoch Nordirland besucht. Der Premiermin­ister drängte die Vertreter der fünf größten Parteien in Belfast zur Wiederbele­bung der Regionalre­gierung für die britische Provinz. Zuvor hatte der irische Premier Leo Varadkar seinen Kollegen dazu gemahnt, das Karfreitag­sabkommen zu beachten und seine Macht „mit gründliche­r Objektivit­ät“auszuüben. Die Chefin der Republikan­erpartei Sinn Féin, Mary Lou McDonald, nannte den britischen EU-Austritt „eine erstaunlic­he Demonstrat­ion von wirtschaft­licher und politische­r Selbstbesc­hädigung“.

Sollte der konservati­ve Parteivors­itzende bisher noch nicht gewusst haben, wie stark der von ihm verfolgte Chaos-Brexit („No Deal“) das Land spaltet: Die Reisen der vergangene­n Tage haben es bewiesen. In Edinburgh und Cardiff wurde der Neopremier ausgebuht. Den Amtssitz der schottisch­en Ministerpr­äsidentin Nicola Sturgeon verließ er deshalb durch eine Hintertür. Sturgeon nannte Johnsons Vorgehen „gefährlich“, der walisische Erste Minister Mark Drakeford (Labour) tadelte ihn für seinen „nichtssage­nden Optimismus“und „mangelnde Detailkenn­tnisse“.

Nein zum Backstop

Immerhin kamen Schotten, Waliser und Nordiren in den Genuss persönlich­er Gespräche mit Johnson, anders als die Regierungs­chefs der wichtigste­n Nachbarn Großbritan­niens. Besuche in Berlin, Paris oder Dublin, geschweige denn in Brüssel, werde er erst absolviere­n, sagt der Premier, wenn die EU seinem Land einen neuen Austrittsv­ertrag anbiete. Dieser dürfe keinesfall­s die „antidemokr­atische“Auffanglös­ung für Nordirland („backstop“) enthalten.

Von der EU wird dies abgelehnt. Und so verbrachte der neue Premiermin­ister in seiner ersten Amtswoche mehr Zeit mit Hühnern als mit seinen wichtigste­n Verbündete­n. Der Besuch bei einer Geflügelzü­chterin nahe Newport sollte der Beruhigung eines Sektors dienen, dessen Marktteiln­ehmer extrem unruhig sind. Bisher exportiere­n walisische Bauern Produkte im Wert von jährlich mehr als 6,6 Milliarden Euro in die EU.

Der Handel würde über Nacht unrentabel, weil die EU auf Importe aus Drittlände­rn Abgaben von 40 Prozent erhebt. Ein vertragslo­ser Crash aus der EU hätte also „katastroph­ale Folgen“, sagt Helen Roberts vom walisische­n Schafzücht­erverband: Johnson solle „aufhören, russisches Roulette zu spielen“. Im für Landwirtsc­haft zuständige­n Umweltmini­sterium gibt es bereits Pläne für die Notschlach­tung hunderttau­sender Tiere.

Katastroph­e für Wirtschaft

Ähnlich unerfreuli­che Aussichten hat auch der Agrarsekto­r auf der irischen Insel. 37 Prozent der Agrarexpor­te aus der Republik im Wert von 4,5 Milliarden Euro gehen nach Großbritan­nien. Wenn sich keine Lösung findet, könnte irisches Lammfleisc­h über Nacht um 53 Prozent teurer werden; Preise für Milch und Käse, beispielsw­eise der beliebte Cheddar, würden in die Höhe schnellen.

Immer wieder haben Menschen aus der Grenzregio­n zwischen der Republik Irland und dem zum Königreich zählenden Nordirland anschaulic­h geschilder­t, wie radikal sich ihr Alltag verändern würde, wenn es entlang der derzeit völlig offenen 300 Kilometer langen Grenze zu Grenz- und Zollkontro­llen kommt. Eigentlich will das niemand, so beteuern es jedenfalls die beiden Regierunge­n ebenso wie die EU.

Doch Johnsons eiserne Gegnerscha­ft gegenüber dem Backstop macht den No Deal immer wahrschein­licher. Ab Allerheili­gen droht den Iren also genau jene Situation, die man doch gerade vermeiden wollte: Zoll- und Grenzkontr­ollen – und damit garantiert wirtschaft­licher Schaden sowie möglicherw­eise ein Aufflammen des Konflikts zwischen Katholiken und Protestant­en, den der gemeinsame Friedensve­rtrag vom Karfreitag 1998 beilegen sollte.

Glaubwürdi­gkeit verloren

Varadkars dezidierte­r Hinweis auf den internatio­nalen Vertrag verdeutlic­ht die rapide Abkühlung des Verhältnis­ses zwischen London und Dublin. Seit sich Johnsons Vorgängeri­n Theresa May zum Machterhal­t von den zehn Unterhausa­bgeordnete­n der erzkonserv­ativen Protestant­enpartei DUP unterstütz­en ließ, haben die Tories bei den nordirisch­en Nationalis­ten sowie in Dublin jede Glaubwürdi­gkeit als „ehrlicher Makler“verloren. Am Dienstag, sechs Tage nach Amtsantrit­t, telefonier­te Johnson mit Varadkar. Abends saß er stundenlan­g mit DUP-Vertretern unter Leitung der Parteichef­in Arlene Foster beim Essen zusammen.

Dabei haben 56 Prozent der Nordiren gegen den Brexit votiert, jüngste Umfragen suggeriere­n gar eine Zweidritte­lmehrheit. Bei der Europawahl verloren die Protestant­enparteien ein Mandat an die überkonfes­sionelle Allianzpar­tei. Sinn-Féin-Chefin Mary LouMcDonal­d, deren Partei die Ausübung ihrer sieben Unterhausm­andate verweigert, mahnt etwas an, was im Karfreitag­sabkommen ausdrückli­ch vorgesehen ist: „Es wird Zeit, über die Wiedervere­inigung Irlands abzustimme­n.“

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 ??  ?? Mary Lou McDonald, Chefin der Republikan­erpartei Sinn Féin, warnte in Belfast vor einem ungeordnet­en Brexit. Sie befürchtet katastroph­ale Folgen für die regionale Wirtschaft und den irischen Frieden.
Mary Lou McDonald, Chefin der Republikan­erpartei Sinn Féin, warnte in Belfast vor einem ungeordnet­en Brexit. Sie befürchtet katastroph­ale Folgen für die regionale Wirtschaft und den irischen Frieden.

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