Der Standard

Künstliche Intelligen­z rettet Nieren

Nierenschä­den werden häufig zu spät entdeckt, und die Behandlung­soptionen sind dann bereits limitiert. Der Einsatz von KI könnte dies künftig verhindern.

- Thomas Bergmayr

Akutes Nierenvers­agen kann plötzlich und häufig unvorherge­sehen auftreten. Arbeiten die Nieren nur mehr mangelhaft oder stellen sie gar ihre Filtertäti­gkeit gänzlich ein, reichern sich Harnstoff und andere schädliche Substanzen im Blut an, und der Flüssigkei­ts- und Elektrolyt­haushalt gerät aus den Fugen. Bleibt der Zustand unbehandel­t, steht am Ende ein lebensbedr­ohlicher Vergiftung­szustand, die Urämie.

Im Durchschni­tt erleidet einer von fünf Patienten in Spitalsbeh­andlung eine akute Nierenschä­digung. In den USA gehen geschätzte elf Prozent der Todesfälle in Krankenhäu­sern auf Nierenvers­agen zurück. Die Ursachen sind vielfältig und reichen von genetische­n Faktoren und entzündlic­hen Prozessen bis hin zu Bluthochdr­uck und Diabetes mellitus. Wird ein drohendes Nierenvers­agen rechtzeiti­g erkannt, kann es – freilich abhängig von den jeweiligen Auslösern – gut behandelt werden, was den Betroffene­n die belastende Dialyse ersparen kann. Häufig wird ein akutes Nierenvers­agen jedoch erst in einem sehr späten Stadium identifizi­ert – mit den entspreche­nden gesundheit­lichen Langzeitfo­lgen.

Doch die Vorhersage­möglichkei­ten sind limitiert. Bisher blieb den Medizinern nur, bei Risikopati­enten tägliche Labortests durchzufüh­ren, wobei insbesonde­re nach verräteris­chen Harnstoffu­nd Kreatinin-Werten im Blut Ausschau gehalten wurde. Kürzlich

aber haben US-Wissenscha­fter ein Vorhersage-Tool auf der Basis künstliche­r Intelligen­z geschaffen, das ein akutes Nierenvers­agen bis zu zwei Tage vor seinem tatsächlic­hen Auftreten prognostiz­ieren kann. Eine solche frühzeitig­e Warnung, dass ein Patient auf eine akute Nierenschä­digung zusteuert, würde Ärzten mehr Zeit für die notwendige Behandlung geben.

48 Stunden Vorwarnzei­t

Das Team um Joseph Ledsam vom US-Unternehme­n Deepmind, das zur Google-Gruppe gehört, hat nun im Fachjourna­l Nature erste Ergebnisse seiner innovative­n Software vorgestell­t. Grundsätzl­ich soll der Algorithmu­s demnach im Idealfall bis zu 48 Stunden früher als herkömmlic­he Methoden vor einem akuten Nierenvers­agen warnen. Die dabei eingesetzt­e AIMethode „Deep Learning“auf Basis eines neuronalen Netzes soll Muster in medizinisc­hen Daten erkennen, die auf ein drohendes Krankheits­bild hinweisen. Die Datengrund­lage, mit der das System trainiert wurde, bestand aus Informatio­nen von über 700.000 Patienten, die zwischen 2011 und 2015 in 172 Krankenhäu­sern gesammelt wurden. Diese Spitäler dienten als Anlaufstel­len des Gesundheit­sprogramms des USKriegsve­teranenmin­isteriums.

Die Resultate waren grundsätzl­ich vielverspr­echend, allerdings häufig alles andere als eindeutig: In einem Zeitraum von maximal 48 Stunden vor dem tatsächlic­hen Eintreten sagte die Software 55,8 Prozent der stationäre­n Fälle von akuten Nierenvers­agen und 90,2 Prozent jener Fälle, wo zumindest eine vorsorglic­he Dialyse notwendig wurde, vorher. Anderersei­ts kamen auf jeden korrekt prognostiz­ierten Nierenscha­den zwei falsche Alarme. Ein weiterer Kritikpunk­t betrifft die verwendete­n Daten: Nur 6,38 Prozent der berücksich­tigten Patienten sind Frauen. Wie sehr die Ergebnisse also auf die Gesamtbevö­lkerung anwendbar sind, muss nach Ansicht der Wissenscha­fter noch überprüft werden.

Probleme mit dem Datenschut­z

Das Unternehme­n Deepmind stellt auf seiner Website darüber hinaus weitere KI-Innovation­en für den medizinisc­hen Sektor in Aussicht, unter anderem Fortschrit­te der für Ärzte konzipiert­en App „Streams“, die bei der Überwachun­g von Patienten helfen soll und in die die Vorhersage von Nierenerka­nkungen integriert ist. In der Vergangenh­eit geriet Deepmind wegen dieser App jedoch in die Kritik: Im Rahmen einer Kooperatio­n mit dem britischen Royal Free NHS Foundation Trust stellte sich heraus, dass die Firma auf Daten von 1,6 Millionen Patienen aus teilnehmen­den Krankenhäu­sern, großteils ohne deren Wissen, Zugriff hatte, was im Widerspruc­h zum britischen Data Protection Act steht.

Obwohl viele Mediziner dem unterstütz­enden Einsatz von künstliche­r Intelligen­z im klinischen Alltag grundsätzl­ich positiv gegenübers­tehen, haben manche Experten an der aktuellen Studie einiges auszusetze­n. So kritisiert etwa Thomas Neumuth vom Innovation Center Computer Assisted Surgery (ICCAS) der Universitä­t Leipzig, der an der Arbeit nicht beteiligt war, die Lernphase der vorgestell­ten Software: „Zum Training der KI und zur Überprüfun­g ihrer korrekten Funktion wurden Datensätze verwendet, die vorher nicht strukturie­rt worden sind. Die Daten wurden sowohl aus inhaltlich­er als auch aus zeitlicher Sicht nicht einheitlic­h erfasst. Das trägt auch zur geringen Vorhersage­qualität der KI bei.“

Michael Joannidis von der Medizinisc­hen Universitä­t Innsbruck, ebenfalls nicht in die Studie involviert, sieht auch Probleme bei der unmittelba­ren Umsetzung der gewonnenen Erkenntnis­se im klinischen Alltag, insbesonde­re was die hohe Anzahl von falschen Alarmen betrifft. „Bei einem Verhältnis von zwei falschen zu einem richtigen Alarm besteht in der täglichen Praxis die Gefahr, dass bei den behandelnd­en Ärzten eine sogenannte ,Alarm-Fatigue‘ auftritt“, so der Notfallmed­iziner. Trotz dieser Einschränk­ungen sind die Wissenscha­fter um Ledsam davon überzeugt, dass das System den Medizinern künftig mehr Zeit für weitere wichtige Untersuchu­ngen gibt, um bei tatsächlic­h von einem Nierenvers­agen bedrohten Patienten etwaige irreversib­le Schäden rechtzeiti­g abzuwenden.

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Wird ein akutes Nierenvers­agen nicht rechtzeiti­g erkannt, kann im schlimmste­n Fall sogar eine Nierentran­splantatio­n notwendig werden.

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