Mit Neuwahlen aus dem Brexit-Patt
Premier Boris Johnson kämpft trotz parlamentarischer Widerstände um den Brexit-Termin am 31. Oktober. Gleichzeitig deutet viel darauf hin, dass in Großbritannien nach 2017 auch heuer noch vorzeitig gewählt werden könnte.
Am Tag danach ist immerhin einiges gleich geblieben. Vor dem Palast von Westminster, dem Sitz des britischen Parlaments, tummeln sich auch an diesem Mittwochmittag kleine Gruppen von Demonstranten. Routiniert rufen sich Brexit-Befürworter unter dem Banner der gleichnamigen Partei und AntiBrexiteers mit Europafahnen gegenseitig Beleidigungen zu, mehr amüsiert als wachsam beäugt von Polizisten.
Im Plenarsaal sitzen, als hätte sich nichts geändert, Margot James und David Gauke auf den Bänken hinter dem Premierminister. Boris Johnson erwidert die Fragen der früheren Staatssekretärin und des Ex-Justizministers wie gehabt mit der Anrede „meine ehrenwerte Freundin“und „mein ehrenwerter Freund“– als gehörten sie noch immer derselben Fraktion an.
Dabei zählt das Duo zu den 21 Konservativen, die am Abend zuvor dem gerade erst seit sechs Wochen amtierenden Premierminister die Gefolgschaft verweigert haben. Als Teil einer parteiübergreifenden Allianz von Parlamentariern nahmen sie der Minderheitsregierung die Hoheit über die Tagesordnung und damit die politische Initiative aus der Hand.
Die Antwort kam wenige Minuten nach der Abstimmung: Wie angekündigt warf der Fraktionsgeschäftsführer („chief whip“) die Rebellen aus der Fraktion und Partei. Ex-Entwicklungshilfeminister Rory Stewart erhielt eine entsprechende SMS – wenige Momente bevor er beim Galaevent eines Männermagazins die Trophäe als „Politiker des Jahres“entgegennehmen durfte. „Ich bin ab sofort ein Ex-Politiker“, scherzte der 46Jährige mit Galgenhumor.
Nicht überall mitmachen
Das ist natürlich übertrieben, einstweilen amtiert Stewart weiterhin als Abgeordneter für den nordenglischen Wahlkreis Penrith – „und ein Konservativer bleibe ich auch“, sagt er tags darauf in Interviews. Aber ein Parteigänger des Regierungschefs, dessen Strategie auf den chaotischen Brexit („No Deal“) am 31. Oktober abzielt – das will Stewart nicht sein.
Und so vollendet er am Abend, worauf das parlamentarische Manöver tags zuvor abzielte: Die AntiStehen Chaos-Allianz verabschiedet gegen den ausdrücklichen Willen der Regierung ein Gesetz, das einen No-Deal-Brexit ausschließen soll. Dem Premierminister bleibt bis 18. Oktober Zeit für eine neue Vereinbarung mit der EU über einen geordneten Austritt. Gelingt ihm dies nicht, muss er in Brüssel um einen neuerlichen Aufschub bis Ende Jänner 2020 bitten.
Wozu der aber dienen soll? Ist es wirklich an der Zeit, dem Unterhaus erneut jenes Verhandlungspaket der früheren Premierministerin Theresa May vorzulegen, das doch drei Mal abgelehnt wurde? Stewart argumentiert ebenso dafür wie der Labour-Hinterbänkler Stephen Kinnock. Als Sprecher einer Gruppe von 18 Labour-Abgeordneten, deren Wahlkreise im Juni 2016 für den Brexit votiert hatten, wirbt dieser für das May-Paket – angereichert um Garantien für Arbeitnehmerrechte und Verbraucherschutz. Es ist das Ergebnis von Gesprächen zwischen Regierung und Opposition, gelangte aber nie zur Abstimmung.
die Zeichen aber auf Kompromiss an diesem windigen Frühherbsttag? Die Rhetorik im Plenarsaal lässt diesen Schluss nicht zu, im Gegenteil: Alles deutet auf Wahlkampf hin. Johnson wettert gegen seine Entmachtung, nennt das No-Deal-Verhinderungsgesetz acht Mal „Kapitulationsgesetz“und beteuert, er werde das „zögerliche Hin und Her“nicht mitmachen. Erneut wiederholt er, er wolle keine Wahl; dann aber tadelt er Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn dafür, dass dieser einem vorgezogenen Urnengang am 15. Oktober einstweilen die Zustimmung verweigert.
Die Begründung dafür liefert der normalerweise milde LabourMann Paul Blomfield, indem er Johnson ins Gesicht sagt: „Die Leute glauben kein Wort von dem, was er sagt.“Tatsächlich würde eine Klausel im einschlägigen Gesetz dem Premierminister nach erfolgter Zustimmung zur Wahl eine Änderung des Termins erlauben. Johnson könnte also die Wahl auf einen Tag nach dem vorgesehenen Brexit-Termin verlegen, was das neue Gesetz verhindern soll.
Welchen Effekt ein No-Deal-Brexit hätte, erörtert an diesem Morgen das Brexit-Komitee anhand der Situation in den Ärmelkanalhäfen und beim Eurotunnel, aber auch an der inneririschen Grenze. Die Plätze der konservativen Abgeordneten sind leer. Wollen sie auf dem Weg zum bedingungslosen Brexit schlechte Nachrichten nicht hören? Die Lebensmittel, die in Supermärkten verkauft werden, stammten „zu 80 Prozent vom Kontinent“, erläutert Andrew Opie vom Einzelhandelsverband BRC und warnt vor Versorgungsengpässen und Preiserhöhungen. Manches ändert sich eben nicht.