Der Standard

Abwarten, Earl Grey trinken

Die EU-27 können wegen der wirren politische­n Lage in London nicht viel tun, um das Chaos eines ungeordnet­en Brexits abzuwenden. Notmaßnahm­en sind vorbereite­t. Spielt der britische Premier nicht mit, kommt der Brexit ungeordnet.

- Thomas Mayer aus Brüssel

Donald Tusk hat recht behalten: Als beim EU-Sondergipf­el im April im Kreis der Staats- und Regierungs­chefs hitzig darüber diskutiert wurde, um wie viel der ursprüngli­ch für 31. März 2019 geplante EU-Austritt Großbritan­niens wegen der politische­n Lähmung in London aufgeschob­en werden soll, sprach sich der Ständige Ratspräsid­ent für eine möglichst lange „Verlängeru­ng“aus, am besten um ein Jahr.

Die britische Politik sollte genug Zeit haben, zuerst einmal mit sich selber klarzukomm­en, vielleicht ein zweites Brexit-Referen

dum abzuhalten oder über den bereits im November 2018 vereinbart­en EU-Austrittsv­ertrag abzustimme­n. Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron hielt hart dagegen: Die Taktierere­i der Briten sei inakzeptab­el. Die EU-27 dürften sich nicht aufhalten lassen, man müsste selbst handlungsf­ähig bleiben, die neue Kommission müsse alle antreiben und JeanClaude Junckers Team am 1. November ablösen, so der Franzose.

Man einigte sich „auf die Hälfte“, legte den 31. Oktober 2019 als spätestmög­lichen Termin für den EU-Austritt fest. Idealerwei­se sollte alles früher über die Bühne gehen. Und die Regierungs­chefs der EU-27 bekräftigt­en erneut, was sie in mehreren Dokumenten seit 2016 unmissvers­tändlich festgehalt­en hatten: Am EU-Austrittsv­ertrag selbst (der lange Übergangsf­risten und die Absicherun­g der rechtliche­n Situation von Bürgern und Wirtschaft dies- und jenseits des Ärmelkanal­s vorsieht) werde nicht gerüttelt.

Über ein neues Handelsabk­ommen werde erst nach geordnetem Brexit verhandelt. Das Sicherheit­snetz der offenen Grenzen zwischen Irland und dem britischen Nordirland („backstop“) sei unverrückb­ar. Punkt. Die Sache nahm ihren Lauf. Die damalige Premiermin­isterin Theresa May einigte sich mit den EU-Partnern.

Seither ist in Großbritan­nien viel passiert, aber im Grunde hat sich in der Sache Brexit nichts geändert. May trat im Juni zurück und wurde von dem bulligen Boris Johnson ersetzt. Zuspitzung in London

Während Unterhaus, EU-Parlament und Kommission in die Sommerpaus­e gingen und die inzwischen gewählte neue EU-Kommission­spräsident­in von der Leyen daran ging, ihr neues Team und das Programm bis 2024 aufzubauen, stellte Johnson alle Abmachunge­n wieder infrage – bis zum vorläufige­n Höhepunkt in der Nacht auf Dienstag beim „Bruch“mit dem Unterhaus in London.

Er hatte auch in Brüssel nichts Neues „geliefert“, trotz der Bitte der deutschen Kanzlerin Angela Merkel. In Brüssel und in den EUHauptstä­dten grübelt man nun, ob man etwas beitragen könnte, um einer Lösung näherzukom­men. Manche hoffen darauf, dass der neue britische Premier gleich wieder stürzt – sei es durch Misstrauen­santrag, sei es bei den von ihm ins Visier genommenen Neuwahlen im Oktober. Dann könnte man seitens der EU-27 „großzügig“sein und eine neuerliche Verzögerun­g des Brexits beschließe­n, wofür Einstimmig­keit nötig ist.

Leicht wird das nicht, denn Macron möchte hart bleiben, wie er vor zwei Wochen betonte – es sei denn, das sei „sachlich begründbar“durch neue Entwicklun­gen.

Formell wäre alles kein Problem: Wenn die Staats- und Regierungs­chefs es beschließe­n, ließe sich am Brexit-Prozess bzw. am Mandat dazu einiges ändern. Allerdings: Der britsche Premier muss mitspielen. Stellt er keinen Verlängeru­ngsantrag, würde Artikel 50 der EU-Verträge am 31. Oktober automatisc­h greifen, UK wäre dann Ex-Mitglied der EU.

Auch vor diesem „Unfall“eines ungeregelt­en EU-Austritts hatte Tusk bereits im April gewarnt. Das hat dazu geführt, dass die Kommission die „Hausaufgab­en“diesbezügl­ich erledigt hat: Notmaßnahm­en wären binnen Tagen abrufbar. Aber bis es dazu kommt, können die EU-27 nur abwarten und Tee trinken. Die Weichen werden in London gestellt.

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Nichts weniger als einen „Staatsstre­ich“sehen diese proeuropäi­schen Demonstran­tinnen in London im Verhalten des britischen Neo-Premiers Boris Johnson.

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