Android 10 macht uns zu Wischern
Android ist das am meisten verwendete Betriebssystem der Welt. Von grundlegenden Änderungen sind Milliarden Menschen betroffen. Eine solche nimmt Google nun mit der neuen Softwaregeneration vor. Ein Test.
Google hat nun eine neue Version seines Smartphonebetriebssystems veröffentlicht. Android läuft auf Milliarden Geräten. Mit Android 10 krempelt Google nun die Art um, wie das Smartphone bedient wird. Die neue Gestennavigation wird bei allen künftigen Android-Geräten von Haus aus eingerichtet sein. Milliarden Menschen werden sich umgewöhnen müssen.
Physische Tasten
Früher wurde die Systemnavigation über physische Knöpfe geregelt. Es gab Buttons für „Home“, „Zurück“und „Menü“. Einzelne Hersteller ergänzten diese um den einen oder anderen zusätzlichen Knopf. Der Kernaufbau blieb aber lange Zeit gleich. 2011 folgte der erste große Umbruch. Mit Android 4 machte Google die Knöpfe zum Teil des Betriebssystems. Anstatt der Hardwareknöpfe wurden Softwarebuttons am Display integriert. Dann folgte ein neuer Smartphonetrend. Um die Displayfläche besser auszunutzen, suchten Hersteller nach alternativen Navigationsmethoden. Und so wurde ein Konzept ausgegraben, an dem sich zuvor Hersteller wie Palm und Nokia versucht hatten: die Gestensteuerung. Apple legte mit dem iPhone X vor, viele Android-Hersteller bieten zumindest alternativ eine solche Navigationsmethode. Google versuchte sich mit Android 9 bereits daran.
Mit Android 10 soll all dies nun vereinheitlicht werden, und dafür nimmt Google einen Neuanfang vor. Das mit Android 9 auf den eigenen Pixel-Smartphones getestete System wird wieder eingestampft, stattdessen orientiert man sich an Apple. Anstelle der alten Systemnavigation gibt es nur noch einen dünnen Balken, der am untersten Ende des Bildschirms platziert ist und über den verschiedene Gesten ausgeführt werden können. Die zentralen Gesten sind flott gelernt: Ein über dem Home-Balken nach oben ausgeführter Swipe bringt die Nutzer zum Home-Screen. Von dort führt dieselbe Geste zum App-Launcher. Wird nach dieser Bewegung der Finger am Display gehalten, öffnet sich der Task-Switcher. Mit einem nach links oder rechts ausgeführten Swipe über dem Steuerbalken wechselt man zwischen den zuletzt benutzten Apps. Der Zurückknopf wird durch eine Wischgeste vom linken oder rechten Bildschirmrand nach innen ersetzt. Zusätzlich kann über einen schräg nach innen gezogenen Swipe aus den unteren Ecken der Google Assistant aufgerufen werden.
All das ist hübsch gemacht und mit Animationen garniert, die symbolisieren, was gerade passiert. Die Wege für die Gesten sind zudem sehr kurz gehalten. Wer beispielsweise den App-Launcher aufrufen will, muss nur noch eine kleine Aufwärtsbewegung ausführen.
Probleme
Und doch ist die neue Gestennavigation von Problemen geplagt, denn zwei Funktionen kommen einander in die Quere: die neue Zurückgeste und der sogenannte „Navigation Drawer“. Letzterer blendet zusätzliche Funktionen vom linken Rand über der restlichen App ein und kann über ein Icon oder über einen seitlichen Swipe vom linken Bildschirmrand aufgerufen werden. Der Schritt zurück erfolgt nun allerdings auch durch eine Wischgeste von links oder rechts.
Diese Problematik ist auch Google nicht verborgen geblieben. Schnelle Swipes vom linken Bildschirmrand werden als Zurückgeste interpretiert, Wischbewegungen, die langsam durchgeführt werden oder in deren Verlauf kurz am Rand mit dem Finger innegehalten wird, rufen den Navigation-Drawer auf. In der Praxis ist das frustrierend, oft wird unabtischer sichtlich die falsche Aktion aufgerufen. Zumindest gibt es einen Trick: Wer den Navigation-Drawer aufrufen will, kann die Wischgeste vom Rand schräg nach oben oder unten durchführen. Für die Zurückgeste empfiehlt es sich, nur den rechten Bildschirmrand zu benutzen.
Die Sensibilität des Randbereichs von Smartphones variiert zudem stark. Mit einer Hülle wird die Erkennung der Gesten noch schwieriger. Google behilft sich hier mit einer Einstellungsoption, mit der festgelegt werden kann, wie sensibel auf die Zurückgeste reagiert wird. Vernünftige Lösungen sind das nicht. Schließlich kann es nicht Ziel sein, dass Nutzer Tricks finden müssen, um fundamentalen Defiziten aus dem Weg zu gehen.
In Summe wirkt das neue Gestensystem mit ziemlich heißer Nadel gestrickt. Google hat bis zur letzten Testversion immer wieder Veränderungen vorgenommen. Das hält den Hersteller aber nicht davon ab, das neue System verpflichtend zu machen. Alle mit Android 10 ausgelieferten Geräte müssen die neue Gestennavigation mitliefern – und zwar als Standardwahl. Die alte Tastennavigation kann als Alternative angeboten werden. Prinzipiell ist eine Vereinheitlichung zu begrüßen, im konkreten Fall wäre es allerdings besser gewesen, wenn Google zuerst einmal eine wirklich ausgereifte Lösung liefern könnte.
Dunkler Modus
Deutlich weniger kontrovers ist die zweite zentrale Neuerung in Android 10. Das Betriebssystem bekommt einen systemweiten Dunkelmodus – „Dark Theme“genannt. Über eine zentrale Einstellung im System kann künftig nicht nur der Stil der Systemdialoge von hell auf dunkel verändert werden, auch Apps können gleich mitwechseln – so sie diesen Modus bereits unterstützen. Ein automaWechsel bei Sonnenuntergang fehlt derzeit noch. Ein dunkler Look ist am Abend angenehmer für die Augen und strahlt auch weniger in den umgebenden Raum hinein. Zudem verbraucht er auf OLED-Bildschirmen weniger Strom. Von einem Einsparungspotenzial von bis zu 60 Prozent spricht Google. In die Umsetzung hat Google einige Designüberlegungen investiert. Das Ergebnis ist stimmig. Vom BootScreen bis zu den Benachrichtigungen und den wichtigsten Google Apps erscheint dann alles in einem dunklen Look. Beim Aktivieren des Akkusparmodus wird zudem automatisch auf das Dark Theme gewechselt. Unerfreulich ist jedoch, dass selbst von Googles eigenen Apps bisher nur ein Teil den neuen Modus unterstützt. Bei Gmail, Google Maps oder etwa Play Store sucht man diesen Support bisher vergeblich.
Benachrichtigungen
Auch beim Benachrichtigungsbereich von Android gibt es interessante Neuerungen. So werden Notifications nun automatisch in die Kategorien „Benachrichtigen“und „Lautlos“eingeteilt. Während Erstere über Ton und Vibration ihr Eintreffen kundtun, tauchen Letztere still im Benachrichtigungsbereich auf. Welche Benachrichtigung in welcher Kategorie landet, wird mittels Maschinenlernen lokal am Gerät automatisch entschieden. Nutzer können auch manuelle Korrekturen an dieser Einteilung vornehmen. Wichtige Notifications werden oberhalb der lautlosen angezeigt. Sehr nützlich ist zudem, dass sich sämtliche stille Benachrichtigungen in einem Rutsch löschen lassen.
Unter dem Namen „Smart Reply“bieten mittlerweile mehrere Google Apps automatisch generierte Antworten auf Nachrichten an. Dieses System ist nun in den Benachrichtigungsbereich integriert und liefert bei sämtlichen Messaging-Apps passende Vorschläge. Dazu kommt noch eine neue Funktion namens „Suggested Actions“, die den Inhalt von Mitteilungen auswertet und darauf basierend hilfreiche Links anbietet. Wird etwa eine Adresse erwähnt, gibt es direkt unter der Benachrichtigung einen Knopf, der zum passenden Google-Maps-Eintrag führt. Im Alltag ist das sicher eine der nützlichsten kleinen Verbesserungen von Android 10.
Nützliche Kleinigkeiten
Es sind oft Kleinigkeiten, die den Smartphonealltag wirklich erleichtern. Mit Android 10 können gespeicherte WLAN-Passwörter mittels QR-Code mit anderen geteilt werden. Konnte bisher einer App der Zugriff auf Standortinformationen nur ganz oder gar nicht gegeben werden, besteht nun die Möglichkeit, dies auf die aktive Nutzung der App zu beschränken. Am Sperrbildschirm werden von Haus aus keine sensiblen Inhalte wie private Nachrichten oder EMail-Inhalte mehr angezeigt. Android 10 bringt 65 neue Emojis wie einen Flamingo oder Waffeln. Außerdem wurde Family Link, Googles Dienst zum Festlegen von Smartphoneregeln für den Nachwuchs, fix in die Systemeinstellungen integriert. Damit können Eltern zentral Limits für die Smartphonenutzung durchsetzen.
Android 10 ist derzeit für sämtliche Pixel-Smartphones von Google zum Download erhältlich. Wer die neue Version noch nicht automatisch erhalten hat, kann diesen Vorgang über die Systemaktualisierung manuell initiieren. Unklar bleibt, wann andere Hersteller für ihre Geräte entsprechende Updates anbieten werden. Doch auch hier gibt es einen positiven Ausblick. Denn in Zukunft will Google den Herstellern einen Teil der Updates aus der Hand nehmen und direkt an alle Smartphones liefern.