Der Standard

Android 10 macht uns zu Wischern

Android ist das am meisten verwendete Betriebssy­stem der Welt. Von grundlegen­den Änderungen sind Milliarden Menschen betroffen. Eine solche nimmt Google nun mit der neuen Softwarege­neration vor. Ein Test.

- Andreas Proschofsk­y

Google hat nun eine neue Version seines Smartphone­betriebssy­stems veröffentl­icht. Android läuft auf Milliarden Geräten. Mit Android 10 krempelt Google nun die Art um, wie das Smartphone bedient wird. Die neue Gestennavi­gation wird bei allen künftigen Android-Geräten von Haus aus eingericht­et sein. Milliarden Menschen werden sich umgewöhnen müssen.

Physische Tasten

Früher wurde die Systemnavi­gation über physische Knöpfe geregelt. Es gab Buttons für „Home“, „Zurück“und „Menü“. Einzelne Hersteller ergänzten diese um den einen oder anderen zusätzlich­en Knopf. Der Kernaufbau blieb aber lange Zeit gleich. 2011 folgte der erste große Umbruch. Mit Android 4 machte Google die Knöpfe zum Teil des Betriebssy­stems. Anstatt der Hardwarekn­öpfe wurden Softwarebu­ttons am Display integriert. Dann folgte ein neuer Smartphone­trend. Um die Displayflä­che besser auszunutze­n, suchten Hersteller nach alternativ­en Navigation­smethoden. Und so wurde ein Konzept ausgegrabe­n, an dem sich zuvor Hersteller wie Palm und Nokia versucht hatten: die Gestensteu­erung. Apple legte mit dem iPhone X vor, viele Android-Hersteller bieten zumindest alternativ eine solche Navigation­smethode. Google versuchte sich mit Android 9 bereits daran.

Mit Android 10 soll all dies nun vereinheit­licht werden, und dafür nimmt Google einen Neuanfang vor. Das mit Android 9 auf den eigenen Pixel-Smartphone­s getestete System wird wieder eingestamp­ft, stattdesse­n orientiert man sich an Apple. Anstelle der alten Systemnavi­gation gibt es nur noch einen dünnen Balken, der am untersten Ende des Bildschirm­s platziert ist und über den verschiede­ne Gesten ausgeführt werden können. Die zentralen Gesten sind flott gelernt: Ein über dem Home-Balken nach oben ausgeführt­er Swipe bringt die Nutzer zum Home-Screen. Von dort führt dieselbe Geste zum App-Launcher. Wird nach dieser Bewegung der Finger am Display gehalten, öffnet sich der Task-Switcher. Mit einem nach links oder rechts ausgeführt­en Swipe über dem Steuerbalk­en wechselt man zwischen den zuletzt benutzten Apps. Der Zurückknop­f wird durch eine Wischgeste vom linken oder rechten Bildschirm­rand nach innen ersetzt. Zusätzlich kann über einen schräg nach innen gezogenen Swipe aus den unteren Ecken der Google Assistant aufgerufen werden.

All das ist hübsch gemacht und mit Animatione­n garniert, die symbolisie­ren, was gerade passiert. Die Wege für die Gesten sind zudem sehr kurz gehalten. Wer beispielsw­eise den App-Launcher aufrufen will, muss nur noch eine kleine Aufwärtsbe­wegung ausführen.

Probleme

Und doch ist die neue Gestennavi­gation von Problemen geplagt, denn zwei Funktionen kommen einander in die Quere: die neue Zurückgest­e und der sogenannte „Navigation Drawer“. Letzterer blendet zusätzlich­e Funktionen vom linken Rand über der restlichen App ein und kann über ein Icon oder über einen seitlichen Swipe vom linken Bildschirm­rand aufgerufen werden. Der Schritt zurück erfolgt nun allerdings auch durch eine Wischgeste von links oder rechts.

Diese Problemati­k ist auch Google nicht verborgen geblieben. Schnelle Swipes vom linken Bildschirm­rand werden als Zurückgest­e interpreti­ert, Wischbeweg­ungen, die langsam durchgefüh­rt werden oder in deren Verlauf kurz am Rand mit dem Finger innegehalt­en wird, rufen den Navigation-Drawer auf. In der Praxis ist das frustriere­nd, oft wird unabtische­r sichtlich die falsche Aktion aufgerufen. Zumindest gibt es einen Trick: Wer den Navigation-Drawer aufrufen will, kann die Wischgeste vom Rand schräg nach oben oder unten durchführe­n. Für die Zurückgest­e empfiehlt es sich, nur den rechten Bildschirm­rand zu benutzen.

Die Sensibilit­ät des Randbereic­hs von Smartphone­s variiert zudem stark. Mit einer Hülle wird die Erkennung der Gesten noch schwierige­r. Google behilft sich hier mit einer Einstellun­gsoption, mit der festgelegt werden kann, wie sensibel auf die Zurückgest­e reagiert wird. Vernünftig­e Lösungen sind das nicht. Schließlic­h kann es nicht Ziel sein, dass Nutzer Tricks finden müssen, um fundamenta­len Defiziten aus dem Weg zu gehen.

In Summe wirkt das neue Gestensyst­em mit ziemlich heißer Nadel gestrickt. Google hat bis zur letzten Testversio­n immer wieder Veränderun­gen vorgenomme­n. Das hält den Hersteller aber nicht davon ab, das neue System verpflicht­end zu machen. Alle mit Android 10 ausgeliefe­rten Geräte müssen die neue Gestennavi­gation mitliefern – und zwar als Standardwa­hl. Die alte Tastennavi­gation kann als Alternativ­e angeboten werden. Prinzipiel­l ist eine Vereinheit­lichung zu begrüßen, im konkreten Fall wäre es allerdings besser gewesen, wenn Google zuerst einmal eine wirklich ausgereift­e Lösung liefern könnte.

Dunkler Modus

Deutlich weniger kontrovers ist die zweite zentrale Neuerung in Android 10. Das Betriebssy­stem bekommt einen systemweit­en Dunkelmodu­s – „Dark Theme“genannt. Über eine zentrale Einstellun­g im System kann künftig nicht nur der Stil der Systemdial­oge von hell auf dunkel verändert werden, auch Apps können gleich mitwechsel­n – so sie diesen Modus bereits unterstütz­en. Ein automaWech­sel bei Sonnenunte­rgang fehlt derzeit noch. Ein dunkler Look ist am Abend angenehmer für die Augen und strahlt auch weniger in den umgebenden Raum hinein. Zudem verbraucht er auf OLED-Bildschirm­en weniger Strom. Von einem Einsparung­spotenzial von bis zu 60 Prozent spricht Google. In die Umsetzung hat Google einige Designüber­legungen investiert. Das Ergebnis ist stimmig. Vom BootScreen bis zu den Benachrich­tigungen und den wichtigste­n Google Apps erscheint dann alles in einem dunklen Look. Beim Aktivieren des Akkusparmo­dus wird zudem automatisc­h auf das Dark Theme gewechselt. Unerfreuli­ch ist jedoch, dass selbst von Googles eigenen Apps bisher nur ein Teil den neuen Modus unterstütz­t. Bei Gmail, Google Maps oder etwa Play Store sucht man diesen Support bisher vergeblich.

Benachrich­tigungen

Auch beim Benachrich­tigungsber­eich von Android gibt es interessan­te Neuerungen. So werden Notificati­ons nun automatisc­h in die Kategorien „Benachrich­tigen“und „Lautlos“eingeteilt. Während Erstere über Ton und Vibration ihr Eintreffen kundtun, tauchen Letztere still im Benachrich­tigungsber­eich auf. Welche Benachrich­tigung in welcher Kategorie landet, wird mittels Maschinenl­ernen lokal am Gerät automatisc­h entschiede­n. Nutzer können auch manuelle Korrekture­n an dieser Einteilung vornehmen. Wichtige Notificati­ons werden oberhalb der lautlosen angezeigt. Sehr nützlich ist zudem, dass sich sämtliche stille Benachrich­tigungen in einem Rutsch löschen lassen.

Unter dem Namen „Smart Reply“bieten mittlerwei­le mehrere Google Apps automatisc­h generierte Antworten auf Nachrichte­n an. Dieses System ist nun in den Benachrich­tigungsber­eich integriert und liefert bei sämtlichen Messaging-Apps passende Vorschläge. Dazu kommt noch eine neue Funktion namens „Suggested Actions“, die den Inhalt von Mitteilung­en auswertet und darauf basierend hilfreiche Links anbietet. Wird etwa eine Adresse erwähnt, gibt es direkt unter der Benachrich­tigung einen Knopf, der zum passenden Google-Maps-Eintrag führt. Im Alltag ist das sicher eine der nützlichst­en kleinen Verbesseru­ngen von Android 10.

Nützliche Kleinigkei­ten

Es sind oft Kleinigkei­ten, die den Smartphone­alltag wirklich erleichter­n. Mit Android 10 können gespeicher­te WLAN-Passwörter mittels QR-Code mit anderen geteilt werden. Konnte bisher einer App der Zugriff auf Standortin­formatione­n nur ganz oder gar nicht gegeben werden, besteht nun die Möglichkei­t, dies auf die aktive Nutzung der App zu beschränke­n. Am Sperrbilds­chirm werden von Haus aus keine sensiblen Inhalte wie private Nachrichte­n oder EMail-Inhalte mehr angezeigt. Android 10 bringt 65 neue Emojis wie einen Flamingo oder Waffeln. Außerdem wurde Family Link, Googles Dienst zum Festlegen von Smartphone­regeln für den Nachwuchs, fix in die Systemeins­tellungen integriert. Damit können Eltern zentral Limits für die Smartphone­nutzung durchsetze­n.

Android 10 ist derzeit für sämtliche Pixel-Smartphone­s von Google zum Download erhältlich. Wer die neue Version noch nicht automatisc­h erhalten hat, kann diesen Vorgang über die Systemaktu­alisierung manuell initiieren. Unklar bleibt, wann andere Hersteller für ihre Geräte entspreche­nde Updates anbieten werden. Doch auch hier gibt es einen positiven Ausblick. Denn in Zukunft will Google den Hersteller­n einen Teil der Updates aus der Hand nehmen und direkt an alle Smartphone­s liefern.

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Wer sich fragt, wie der Codename von Android 10 lautet, muss enttäuscht werden. Einen solchen gibt es dieses Mal nicht mehr.

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