Alles strebt nach Unglück
Aufrührer und absurder Alltag auf dem Filmfestival Venedig: Pietro Marcello und Roy Andersson sorgen für Highlights aus Europa
Die Luft ist wieder klar am Lido, der Trubel des letzten Augustwochenendes einer Aufgeräumtheit gewichen. Es ist jedes Jahr dasselbe Schauspiel: Das Filmfestival Venedig läuft noch in vollen Zügen, aber die Manege wirkt – durch die Konkurrenz in Toronto – schon ein wenig verlassen. Die passende Einstellung dazu findet man in Roy Anderssons About Endlessness. Da sitzt ein älteres Ehepaar auf einer Bank und schweigt. Nach einer halben Ewigkeit sagt die Frau: „Es ist bereits September.“Der Mann schaut sie nicht an, sondern blickt auf die Stadt, und dann brummt er nur. Das Ende kommt gewiss.
Der 76-jährige schwedische Filmemacher hat bereits 2014 einen Goldenen Löwen für Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach gewonnen. Mit dem nur knapp weniger als 80 Minuten langen About Endlessness legt er eine weitere Sammlung seiner
eigenwilligen szenischen Miniaturen vor. Mit dem Erfahrungsschatz eines langen Lebens sinniert Andersson über menschliche Fehler und Unbedarftheiten.
Das ist oft zum Lachen, manchmal sehr melancholisch. Die längste Episode erzählt von einem Priester, der seinen Glauben verliert und zum Arzt geht. Was wie ein Witz klingt, wird unter Anderssons Regie zum Vexierbild absurder Anstrengungen. Von einer erzählerischen Vignette zur nächsten verstärkt sich der Eindruck einer metaphysischen Ausweglosigkeit, die die Menschen nicht näher zusammenbringt.
Der Gestus des ausgeklügelt orchestrierten Films bleibt dennoch gütig, ja humanistisch. Wenn einer glücklich ist und das in einer Bar herausprusten muss („Ist es nicht fantastisch!“), dann bleibt er halt ziemlich allein damit. Der Reigen beschränkt sich allerdings nicht auf diese Alltagsbeobachtungen. Es gibt auch Verweise auf den Krieg, einmal sitzen wir sogar im Nazi-Bunker, wo die Treuesten wie Zombies ausharren und kaum noch den Arm zu zücken vermögen, als ein ratloser Hitler eintritt.
Anderssons Film läuft auf einen Kreislauf hinaus, eine Hölle zu Lebzeiten, die vielleicht nur jene durchbrechen, die mehr riskieren. Das kann man durchaus auf das Filmemachen beziehen. Im Wettbewerb gab es bemerkenswerte Filme zu sehen, aber noch kaum einen, dessen gestalterischer Experimentiergeist überraschte.
Geformte Figur
Beim Spielfilm des Italieners Pietro Marcello verhält sich die Sache anders. Er hat Jack Londons autobiografisch gefärbtes Buch Martin Eden von 1909 verblüffend schlüssig auf die erst danach einsetzende Epoche bezogen. Kein „period piece“, sondern ein Film, der die Geschichte durchpflügt: Im Mittelpunkt steht Eden (Luca Marinelli), der Matrose aus dem Arbeiterstand, der sich in die junge Adlige Elena (Jessica Cressy), vielleicht auch nur in die Idee ihrer Erscheinung, verliebt. Nun setzt er alles daran, zu ihrer Klasse aufzuschließen. Zweiter Bildungsweg: Schriftsteller.
Marcello nutzt diese romantische Konstellation wie ein Meißel, um aus seinem Helden eine gesellschaftliche Figur zu formen. Das Fieber, mit dem er sein Ansinnen verfolgt, lässt ihn durch die Ideologien der Ära marschieren und dabei immer mehr zum anarchistischen Individualisten reifen, der für den Sozialismus nur Spott übrig hat. Je mehr Ruhm und Anerkennung er findet, desto selbstzerstörerischer tritt er auf.
Die Bezüge des Films, vom Klassenkampf bis zur Massenkultur, übersetzt Marcello stilistisch, indem er Archivaufnahmen einwebt. Auf körnigem 16-mm-Filmmaterial gedreht, arbeitet sich der Streifen durch den filmischen Modernismus des letzten Jahrhunderts und bleibt doch eigensinnig. Wär weiß, vielleicht gewinnt in Venedig mal wieder ein Italiener.