Das menschliche Gesicht der Geschichte
Er machte der Welt ein Bild von Donald Trumps Grenzpolitik: John Moores Aufnahme vom weinenden Mädchen an der Grenze ist das weltbeste Pressefoto des Jahres. Er will die Menschen hinter der Statistik und der Story zeigen.
Millionen Menschen sehen unsere Bilder in Social Media. Sie sollten immer hinterfragen, was sie tatsächlich zeigen.
Das Foto Crying Girl on the Border entstand am 12. Juni 2018, als eine Gruppe von Frauen und Kindern auf Floßen die US-Grenze in McAllen, Texas, erreichte und von Grenzbeamten durchsucht wurde. Kurz zuvor hatte Trump die Null-Toleranz-Politik ausgerufen, die vor der Trennung von Eltern und Kindern nicht haltmachte.
„An dem Tag machte ich mehr als 2000 Bilder. Das Bild der weinenden Yanela Sanchez war eines der letzten sechs“, sagt John Moore (51) im STANDARD-Interview. Ab Freitag und bis 20. Oktober zeigt die Wiener Galerie Westlicht sein Siegerbild mit den übrigen Preisträgern des World Press Photo Award. Moore ist leitender Fotograf und Sonderkorrespondent der US-Bildagentur Getty Images.
Als ein Grenzpolizist Yanelas Mutter Sandra aufforderte, ihre Tochter für die Durchsuchung abzusetzen, begann das Mädchen bitterlich zu weinen. Die beiden waren bereits einen Monat lang unterwegs, um von Honduras in die USA zu gelangen.
Das weinende Mädchen wurde zum Bild der Härte von Trumps Grenzpolitik. Ein umstrittenes Pressefoto, weil Yanela gerade nicht von ihrer Mutter getrennt wurde. „Ich wusste nicht, ob sie getrennt werden würden, aber natürlich machte ich mir Sorgen“, sagt Moore. Im Interview erklärt er, wie das Bild vor allem in sozialen Medien den Kontext verlor. Mit Sandra hielt er Kontakt. „Im Oktober verhandelt ein Gericht endlich, ob sie blieben und arbeiten darf.“
Standard: Ihr Bild wurde in Einzelfällen in einen falschen Zusammenhang gestellt.
Moore: Als das Bild von Yanela in traditionellen Medien veröffentlicht wurde, verwendeten viele Titelseiten weltweit die richtigen Bildunterschriften und den ursprünglichen Kontext. In den sozialen Medien wurde dieses Bild in Memes umgewandelt und ohne meine Bildbeschreibung verwendet. Millionen Menschen sehen unsere Bilder in Social Media. Sie sollten mit diesen Bildern sorgsam umgehen und immer hinterfragen, was sie tatsächlich zeigen.
Standard: Einige sprachen bei diesem Foto vom menschlichen Gesicht von Trumps verschärfter Einwanderungspolitik.
Moore: Bilder sind am besten, wenn sie in ihrer ursprünglichen Form verwendet werden, in ihrem Kontext und mit den Informationen darüber. Je weiter man davon abrückt, desto gefährlicher ist es für das Foto. Viele Leute sahen das Cover des Time Magazine, auf dem nur Yanela zu sehen war, vor dem Präsidenten – das war auch umstritten. Manche nahmen an, dass das meine Idee war. Die Artdirektoren von Magazinen konsultieren die Fotografen nicht, wenn sie Fotoillustrationen machen. Wenn ein dokumentarisches Bild verwendet wird und es mit etwas anderem kombiniert und als Fotoillustration gekennzeichnet wird, ist das in Ordnung. Aber die Leute sehen diese Dinge auf ihrem Handy nur sehr kurz. Wir wollen Glaubwürdigkeit bewahren – das geht so nur schwer.
Standard: Was macht ein gutes, relevantes Pressefoto aus?
Moore: Als die US-Regierung im vergangenen Jahr die NullToleranz-Politik einführte, wurden die Geschichten oft in Form von Statistiken erzählt. Wir als Gesellschaft verstehen eine Geschichte besser, wenn wir den menschlichen Aspekt erkennen können. Ich wollte einer komplizierten Geschichte ein menschliches Gesicht geben. Millionen von Menschen wollen in die USA kommen, und sie alle haben einen unterschiedlichen Hintergrund, eine eigene Geschichte. Sie sollten als Individuen behandelt werden und nicht nur als eine Horde von Menschen von woanders. Wenn ich Bilder mache, die den Menschen Verbundenheit mit den Abgebildeten vermitteln, verbringen sie mehr Zeit mit dem Bild und beschäftigen sich mit seinem Kontext.
Standard: Was sagen Sie zu dem Vorwurf, die World Press Photo Awards würden größtenteils fotojournalistischen Leistungen auszeichnen, die soziale Ungerechtigkeit und Folgen von Gewalt, Krieg und Leiden dokumentieren?
Moore: Ich persönlich glaube, dass diese spezielle Jury sehr gute Arbeit geleistet hat, um eine Vielzahl unterschiedlicher Themen hervorzuheben. Wenn man sich die gesamte Ausstellung ansieht, lichten einige der Fotos sehr unerwartete Themen ab. Wichtige Themen, die von Bedeutung sind. Man kann mit Recht sagen, dass das Thema Einwanderung in diesem Jahr ein großes Thema für die World Press Photo Awards war.
Standard: In Medien, insbesondere in Zeitungen, wird seit Jahren gespart. Wie sehen Sie die Zukunft der Pressefotografie?
Moore: Noch nie gab es mehr Nachfrage nach Inhalten. Leute möchten über die neuesten Nachrichten informiert werden, alles und rund um die Uhr. Zugleich gibt es immer weniger Journalisten und Fotojournalisten, die über lokale Entwicklungen berichten. Die Geschäftsmodelle für Journalismus haben sich gewandelt. Die größte Gefahr für den Journalismus liegt in den Regionen, wenn mehr und mehr kleine und mittelgroße Zeitungen eingestellt werden. Damit fällt eine Kontrollinstanz für Lokalund Regionalpolitiker weg. Das bereitet mir ernsthafte Sorgen.