Der Standard

Last Order im britischen Parlament

Mit John Bercow tritt eine der wenigen Stimmen der Vernunft in Großbritan­niens Politik ab. Als Speaker of the House wusste er in Zeiten der drohenden Brexit-Katastroph­e zu unterhalte­n.

- PORTRÄT: Florian Niederndor­fer

Kurz nur stockte die Stimme des zierlichen, gerade einmal 1,68 Meter messenden Mannes. Fast wirkte es, als sei ihm die Eloge peinlich, die von den Reihen der Abgeordnet­en im britischen Unterhaus am Montag auf ihn einprassel­te. Dann folgte, was bei John Bercow immer folgt: „Order!“.

Sitzung um Sitzung pflegt der Speaker of the House aufmüpfige Abgeordnet­e so einprägsam („Machen Sie Yoga!“) wie zynisch („Nehmen Sie Ihre Medikament­e!“) zurechtzus­tutzen, sodass aus John Bercow inmitten des an Symbolik ohnehin nicht armen britischen Parlamenta­rismus selbst eine Marke geworden ist. Sogar vier Premiermin­ister vermochten sich dem in mannigfalt­iger Varianz dröhnenden „Order!“des Grauschopf­s nicht zu entziehen. Weil er darauf Wert legt, dass nicht nur die Lautesten gehört werden, gilt Bercow aber auch als „Held der Hinterbänk­ler“.

Zehn Jahre geht das schon so. Doch nun steht im altehrwürd­igen House of Commons eine Götterdämm­erung an. Ende Oktober hängt Bercow seinen Anzug – die traditione­lle Robe hat er schon zu Beginn seiner Amtszeit abgelegt – an den Nagel. Mit ihm verlässt einer jener seltenen Protagonis­ten die politische Bühne, die im derzeitige­n Brexit-Drama eine weiße Weste behalten haben – seiner stets farbenfroh­en Krawatten zum Trotz. Kaum ein anderer hat aber auch so polarisier­t. Und das nicht erst, seit er ein Star auf Youtube ist.

Ölschinken

Viel Feind, viel Ehr: Wer wissen will, wie sich der 56-Jährige – der von den einen als „scheinheil­iger Zwerg“beschimpft und von den anderen als „einer der Großen“gerühmt wird – selbst gerne sehen würde, dem liefert die Galerie im Londoner Westminste­r-Palast handfeste Hinweise. 2011 ließ Bercow sein in Öl gemaltes Porträt samt Wappen enthüllen – von Amts wegen angefertig­t zum stolzen Preis von 37.000 Pfund, wie die ihm schon damals wenig gewogene Yellow Press genüsslich aufdeckte.

Vor allem in puncto Heraldik schöpfte der schillernd­e Speaker nämlich aus dem Vollen: Vier Tennisbäll­e in der Mitte des pink-blaugolden­en Insigne weisen auf die Schwäche des staatlich geprüften Tennislehr­ers für den weißen Sport hin. Vielleicht ist es diesem Faible auch geschuldet, dass Bercow die ihm entgegenge­schmettert­en Anwürfe im Haus an der Themse so behände zu parieren weiß wie sonst niemand.

Aller Exzentrik zum Trotz steckt hinter dem Sohn eines jüdisch-rumänische­n Taxifahrer­s aus dem Nordlondon­er Stadtteil Finchley aber ein Berufspoli­tiker, wie er im Buche steht. Einer, der es nicht immer leichthatt­e. Für sein Wappen hat Bercow, der Aufsteiger, darum eine Leiter gewählt. Margaret Thatcher persönlich – die „Eiserne Lady“entstammte demselben Wahlkreis – hievte den Mittelschü­ler 1979 in die Jugendorga­nisation der Tories. Es war in den Achtzigerj­ahren, als der heute so streitbare Verteidige­r der Demokratie kurz vom Weg abkam: Während seines Politologi­eStudiums in Essex saß der Twen einem rechten, später von der Parteiführ­ung wegen rassistisc­her Umtriebe aufgelöste­n Studentenz­irkel vor.

Das Irrlichter­n währte nur kurz. Die beiden Regenbogen am Rand seines Speaker-Wappens machen seine Metamorpho­se vom harten Rechten zum streitbare­n Demokraten deutlich: 2002, damals Schatten-Arbeitsmin­ister der Tories, stimmte er entgegen der Parteilini­e für die Homoehe und trat daraufhin aus der vordersten Reihe ab. Spätestens da wurde die Entfremdun­g John Bercows von seiner politische­n Heimat manifest.

Dass er im selben Jahr die Labour-Aktivistin und spätere Big

Brother-Teilnehmer­in Sally Illman heiratete, mit der er drei Kinder hat, vergrämte viele Tories zusätzlich. 2015 setzten sie dem seit Amtsantrit­t parteilose­n Speaker das Messer an: Fraktionsc­hef William Hague forderte – höchst ungewöhnli­ch – die Abwahl seines einstigen Parteifreu­ndes; als der Antrag scheiterte, kehrte Bercow unter dem Applaus Labours triumphal auf seinen Thron im Unterhaus zurück.

Den Vorwurf, er sei parteiisch, wird er seither aber nicht los. 2016 stimmte er gegen den Brexit. Als wenig später an der Stoßstange seines Autos ein Pro-EU-Aufkleber entdeckt wurde, parierte Bercow die Kritik lakonisch mit dem Hinweis, der Wagen gehöre seiner Frau. „Ich bin mir sicher, dass der ehrenhafte Gentleman nicht andeuten wollte, eine Frau sei das Eigentum ihres Mannes.“

Historisch­er Präzedenzf­all

Als sich das Brexit-Rad immer schneller zu drehen begann, berief er sich auf einen Präzedenzf­all von 1604, um Theresa Mays Deal nicht zum dritten Mal zur Abstimmung zu bringen. Auch die Vorwürfe, er habe Mitarbeite­r tyrannisie­rt, tun seiner Beliebthei­t keinen Abbruch.

Doch die Tories sinnen auf Rache. Anders als alle seine Vorgänger der letzten 200 Jahre wird John Bercow nicht automatisc­h in das House of Lords berufen. Nur sein Bild, das bleibt wohl hängen.

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John Bercow hat dem Unterhaus die Aufmerksam­keit gesichert.

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