Der Standard

Minderjähr­ige kämpfen gegen Kinderehe

Weltweit wird eines von fünf Mädchen vor seinem 18. Geburtstag verheirate­t. Besonders häufig geschieht das in West- und Zentralafr­ika. Drei Teenager aus Nigeria nehmen das nicht länger hin und sammeln Unterschri­ften.

- Katrin Gänsler aus Lagos

Susan Ubogu und Kudirat Abiola haben sich durch den Nachmittag­sverkehr der Millionens­tadt Lagos gekämpft. Endlich sind die 17-Jährige und ihre 16-jährige Freundin im Stadtteil Yaba angekommen. Der Verkehr war wie so oft in der Wirtschaft­smetropole unberechen­bar. Seit Monaten sind die Schülerinn­en viel unterwegs, um auf die Risiken der Kinderehe aufmerksam zu machen – in ihrer Freizeit, neben der Schule. Temitayo Asuni, die ebenfalls zu der eigens im vergangene­n Dezember gegründete­n nichtstaat­lichen Organisati­on „It’s never your fault“(„Es ist niemals deine Schuld“) gehört, studiert gerade im Ausland.

Kennengele­rnt haben sich die drei im Jahr 2018 eher zufällig bei einem Workshop für Schülerinn­en. Thema waren die 17 Ziele für nachhaltig­e Entwicklun­g der Vereinten Nationen: die Sustainabl­e Developmen­t Goals (SDGs). An fünfter Stelle steht Geschlecht­ergerechti­gkeit. Um den abstrakten Begriff konkret zu machen, entschiede­n sie sich, sich mit der Heirat von Minderjähr­igen zu befassen. Was es bedeutet, als Kind oder Teenager verheirate­t zu werden, möchte sich Susan Ubogu gar nicht im Detail vorstellen: „Ich wäre so eingeschrä­nkt mit dem, was ich in meinem Leben schaffen will. Und die Männer, die sind häufig so alt wie Großväter.“

650 Millionen Betroffene

In vielen Ländern ist die Kinderehe bis heute verbreitet. Die nichtstaat­liche Organisati­on Girls Not Brides schätzt, dass eines von fünf Mädchen vor ihrem 18. Geburtstag verheirate­t wird. Weltweit sind mehr als 650 Millionen Frauen vor ihrer Volljährig­keit verheirate­t worden. Besonders häufig stammen sie aus west- und zentralafr­ikanischen Ländern. Niger führt mit 76 Prozent die Statistik an, danach folgen die Zentralafr­ikanische Republik und der Tschad. Nigeria liegt auf Platz elf.

Hier ist die Rechtslage jedoch besonders. Seit 2003 gibt es das Kinderrech­tsgesetz, in dem das heiratsfäh­ige Alter mit 18 Jahren festgelegt ist. „Es ist ein föderales Gesetz, dem erst auf Landeseben­e zugestimmt werden muss. Ansonsten kann es nicht umgesetzt werden“, erklärt Hussaini Abdu, Landesdire­ktor von Plan Internatio­nal. Das haben im föderalen System jedoch längst nicht alle 36 Bundesstaa­ten getan. Vor allem im muslimisch geprägten Norden ist das Gesetz nicht unterzeich­net worden. Auch ohne verlässlic­he Zahlen zu haben, liegt es nahe, dass dort besonders viele Mädchen verheirate­t werden. Mit der Heirat gelten sie jedoch wiederum als erwachsen, was eine weitere Besonderhe­it ist.

Als alleiniges Phänomen des Nordens will Kudirat Abiola es jedoch nicht sehen. Sie betont, dass zehn Prozent der Fälle im Südwesten auftreten. „Es geht um die Verfassung, und die betrifft das ganze Land.“Ziel der drei Teenager ist es deshalb, dass das Heiratsalt­er in der Verfassung auf 18 Jahre festgelegt wird. Dafür haben sie auf der Onlineplat­tform change.org bisher knapp 225.000 Unterschri­ften gesammelt. Um Druck zu machen, sollen auch Gespräche mit Politikern geführt werden. „Wir wollen, dass es unser Vorhaben ins Parlament schafft. Für eine Verfassung­sänderung braucht es eine Zweidritte­lmehrheit. Politiker sollen in unserem Sinne abstimmen“, sagt Susan Ubogu. Wie die Organisati­on Interesse an dem Thema wecken kann, hat sie sich ebenfalls überlegt: „Meine Botschaft lautet: Stellt euch vor, eure Tochter oder jüngere Schwester wäre eines dieser Mädchen. Sie wird von zu Hause weggebrach­t und einem 70-Jährigen gegeben, der alle möglichen Dinge mit ihr macht.“

Schaden für die Wirtschaft

Hussaini Abdu nennt drei Faktoren, mit denen Kinderehen gerechtfer­tigt werden: eine falsche Auslegung der Religion, akzeptiert­e kulturelle Praxis und wirtschaft­liche Not. „Sobald eine Tochter verheirate­t ist, ist der Ehemann für sie verantwort­lich und nicht mehr die Eltern. Erst mit besserer Bildung und höheren Lebensstan­dards wird dieses Verhalten infrage gestellt.“

Für die nigerianis­che Wirtschaft sei die Kinderehe jedoch von jeher katastroph­al, so Kudirat Abiola: „Mädchen gehen nicht zur Schule und werden nicht ausgebilde­t. Das bringt mehr Armut und verlangsam­t das Wirtschaft­swachstum. Deswegen muss jetzt etwas gegen die Kinderehe unternomme­n werden.“

 ??  ?? Kudirat Abiola (links) und Susan Ubogu wollen, dass das heiratsfäh­ige Alter mit 18 Jahren in den Verfassung­srang gehoben wird.
Kudirat Abiola (links) und Susan Ubogu wollen, dass das heiratsfäh­ige Alter mit 18 Jahren in den Verfassung­srang gehoben wird.

Newspapers in German

Newspapers from Austria