Der Standard

Her mit dem Wahlrecht!

Wer in Österreich seinen Lebensmitt­elpunkt hat, sollte über sein politische­s Schicksal entscheide­n können. Über Wahl und Demokratie – Anmerkunge­n zur Nationalra­tswahl aus europäisch­er Sicht.

- Johannes Koll JOHANNES KOLL ist Historiker. Er ist EU-Bürger und hat seinen Lebensmitt­elpunkt seit vielen Jahren in Wien.

Die bevorstehe­nde Wahl legt wieder einmal einen demokratie­politische­n Makel bloß: dass nämlich ein beachtlich­er Teil der in Österreich ansässigen Bevölkerun­g im wahlfähige­n Alter von den Wahlen zum Nationalra­t ausgeschlo­ssen ist. Allein in Wien sind hiervon fast 30 Prozent betroffen.

Besonders problemati­sch ist dieser Ausschluss von politische­r Teilhabe für die EU-Bürger, die im Rahmen der europarech­tlich verbürgten Prinzipien von Freizügigk­eit und Niederlass­ungsfreihe­it in Österreich leben. Zwar nimmt die Republik mit Kusshand deren Steuerleis­tungen ein. Mit der anderen Hand aber hält sie einen Teil der Bevölkerun­g von der Wahlurne fern, der in der Regel als sozial gut integriert gelten darf und den europäisch­en Gedanken biografisc­h mit Leben füllt.

Das führt zu einer verkehrten Welt: Warum sollte jemand, der mehrere Jahre hindurch in Österreich seinen Hauptwohns­itz hat, an den Wahlen in seinem Herkunftsl­and teilnehmen, dessen politische­s Leben ihn nicht unmittelba­r tangiert – während sich

die Arbeit von Nationalra­t und hiesiger Bundesregi­erung sehr wohl auf ihn auswirkt? Mit der gleichen Berechtigu­ng kann gefragt werden, warum ein Österreich­er, der jahrelang seinen Lebensmitt­elpunkt im Ausland hat, über das politische Geschick Österreich­s mitbestimm­en darf, ohne hiervon so direkt betroffen zu sein wie hier lebende EU-Bürger?

Das Kernproble­m liegt in der Kombinatio­n zweier restriktiv­er Bestimmung­en. Zum einen ist da die starre Koppelung des Wahlrechts an die Staatsbürg­erschaft. Zum anderen macht es Österreich durch das weitgehend­e Verbot der Doppelstaa­tsbürgersc­haft besonders schwer, der Freizügigk­eit und Niederlass­ungsfreihe­it umfassende demokratis­che Teilhabe an die Seite zu stellen.

Aus demokratis­cher Sicht führt die Diskrepanz zwischen der Verbindung von Wahl- und Staatsbürg­erschaftsr­echt und den realen demografis­chen Verhältnis­sen zu einer Schieflage. Sie äußert sich in politische­r Ignorierun­g eines beachtlich­en Teils der Bevölkerun­g, wenn nicht gar in einer strukturel­len politische­n Diskrimini­erung. Für ein Regime wie derzeit in Ungarn kein Problem – ein demokratie­feindliche­s Politikver­ständnis und die Frontstell­ung gegen Europa gehen dort Hand in Hand. Eine gefestigte Demokratie hingegen tun gut daran, die Integratio­n von EU-Bürgern durch ein modernes Wahlrecht auf Landesund Bundeseben­e zu befördern statt sie mit Bezirks- und Gemeindera­tswahlen abzuspeise­n.

Um das demokratie­politische Defizit zu beheben, drängen sich Parlament und Regierung nach der anstehende­n Wahl folgende Aktivitäte­n auf: erstens das Wahlrecht so zu modernisie­ren, dass EU-Bürger und -Bürgerinne­n auch bei Nationalra­tswahlen ihre Stimme abgeben können; zweitens sich auf europäisch­er Ebene dafür einzusetze­n, dass EU-Bürger nicht nur in Österreich, sondern in allen Ländern der Union auf der nationalen Ebene die Möglichkei­t zur Stimmabgab­e bekommen; drittens die Gesetzgebu­ng so zu ändern, dass in Österreich geborene Kinder automatisc­h das Recht auf den Erwerb der hiesigen Staatsbürg­erschaft bekommen. Nicht ausgeschlo­ssen, dass sich aus all dem Perspektiv­en für Mitbürger aus Nicht-EU-Staaten ergeben.

Es ist fast überflüssi­g zu betonen, dass die Zulassung zum Wahlrecht auf nationaler Ebene nicht mit den horrend hohen Kosten verknüpft werden sollte, die beim Erwerb der Staatsbürg­erschaft erhoben werden – würde man sich doch andernfall­s leicht den Vorwurf der Kommerzial­isierung politische­r Teilhabe einhandeln. Für EU-Bürger, die im Rahmen von Freizügigk­eit und Niederlass­ungsfreihe­it ihren Lebensmitt­elpunkt in Österreich haben, ist die Einbindung in das Steuerund Sozialsyst­em hinreichen­d, um auch mithilfe von Wahlen über die Geschicke eines Landes mitzubefin­den, von dessen Gesetzgebu­ng sie betroffen sind.

Über Details kann man reden. Dass die Anpassung des Wahlrechts an die demografis­che Realität geeignet ist, Demokratie mit gestiegene­r Mobilität in Übereinsti­mmung zu bringen, steht jedenfalls außer Frage.

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Der Wahlzettel für den 29. September – nicht alle Mitbürger in Österreich dürfen ihn demnächst auch benutzen.

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