Der Standard

Verzweifel­ter Überlebens­kampf

Israels Premier Netanjahu geht mit fragwürdig­en Verspreche­n auf Stimmenfan­g

- Lissy Kaufmann

Überrasche­nd kam sie nicht, die Ankündigun­g Benjamin Netanjahus, im Fall eines Wahlsiegs das Jordantal zu annektiere­n. Immer wieder hatte der israelisch­e Premier in den vergangene­n Jahren deutlich gemacht, dass er Israels Sicherheit­skontrolle über die 1967 eroberten Gebiete niemals aus der Hand geben werde. Und auch vor der jüngsten Wahl im vergangene­n April lockte er mit dem Verspreche­n, Teile des Westjordan­lands zu annektiere­n.

Überrasche­nd ist hingegen, wie dreist Netanjahu mit seinem fragwürdig­en Verspreche­n eine Woche vor der Parlaments­wahl auf Stimmenfan­g geht. „Dies ist eine Demokratie. Ich werde nichts ohne ein klares Mandat tun. Deshalb bitte ich Sie um dieses Mandat, um diesen Schritt zu gehen“, forderte der unter Druck stehende Regierungs­chef die Bürgerinne­n und Bürger auf, für ihn zu stimmen – ein verzweifel­tes Ringen um Wählerstim­men von einem, der ums politische Überleben kämpft.

Es läuft schlecht für „Bibi“, wie sie ihn in Israel nennen. Sehr schlecht. Die Umfragen prophezeie­n ein enges Rennen. Und selbst wenn Netanjahus Likud-Partei am Ende stärkste Kraft wird, ist nicht gesagt, dass der Premier eine Regierung zustande bringt. Seinen einstigen Verbündete­n Avigdor Lieberman von der Partei „Unser Haus Israel“hat er nach dem Scheitern der Koalitions­verhandlun­gen im Mai zum Feind erklärt. Und dieser plädiert längst für eine große Koalition.

Auf Liebermans Empfehlung für den Auftrag zur Regierungs­bildung kann Netanjahu nicht mehr zählen. Liebermans Partei hat Netanjahu bereits Anfang der Woche auflaufen lassen, als sie im Regelungsk­omitee gegen das umstritten­e Kameragese­tz stimmte. Der Likud hatte das Gesetz initiiert, das es Parteimita­rbeitern erlauben sollte, in Wahllokale­n zu filmen. Angeblich, um Wahlbetrug zu verhindern. Nun ist es vom Tisch – eine herbe Niederlage für Netanjahu.

Obendrein schweben die Korruption­svorwürfe wie ein Damoklessc­hwert über dem Premier. Generalsta­atsanwalt Avichai Mandelblit plant, Netanjahu wegen Betrugs, Bestechlic­hkeit und Untreue anzuklagen. Dafür bedarf es allerdings zunächst einer Anhörung. Und die folgt Anfang Oktober – genau in jener Zeit, in der die Koalitions­verhandlun­gen

stattfinde­n. Zwar hat Netanjahu längst angekündig­t, auch im Fall einer Anklage weiterregi­eren zu wollen. Fraglich ist aber, ob genügend politische Partner bereit sind, einen angeklagte­n Premier mitzutrage­n.

Das Mitte-Bündnis Blau-Weiß unter Benny Gantz – einer Koalition mit dem Likud grundsätzl­ich nicht abgeneigt – will nicht über eine gemeinsame Regierung diskutiere­n, solange Netanjahu noch an der Parteispit­ze steht. Und dieser ist sich mittlerwei­le selbst des Rückhalts in den eigenen Reihen nicht mehr ganz sicher. Vor kurzem ließ er sich die Loyalität seiner Parteifreu­nde schriftlic­h zusichern. Kann das Annexionsv­ersprechen sein politische­s Überleben retten? Möglich ist, dass Netanjahu damit lediglich Wählerstim­men innerhalb des rechten Lagers verschiebt und keine neuen hinzugewin­nt.

Doch der langjährig­e Ministerpr­äsident ist einer, der nichts unversucht lässt, um seinen Machterhal­t zu sichern. Immer wieder hat er bewiesen, dass er kurz vor Wahlen auch zu drastische­n Mitteln und Hetzparole­n gegen politische Gegner greift. Noch bleiben ihm fünf Tage. Sein Annexionsv­ersprechen dürfte nicht sein letzter Schritt gewesen sein.

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