ZITAT DES TAGES
Seinen überraschenden Freispruch in Ankara erklärt der österreichische Aktivist und Publizist Max Zirngast mit einer von der türkischen Innenpolitik beeinflussten Teilliberalisierung.
„Tatsache ist, dass in der Türkei sehr viele Menschen unter noch viel absurderen Anklagen im Gefängnis sind.“Der österreichische Publizist und Aktivist Max Zirngast nach seinem Freispruch
Genau ein Jahr nach seiner Festnahme wegen Terrorvorwürfen ist der österreichische Aktivist und Publizist Max Zirngast überraschend von einem Gericht in Ankara freigesprochen worden.
STANDARD: Wie haben Sie die vergangenen Stunden verbracht?
Zirngast: Ich habe kaum geschlafen, hatte viele Medienanfragen und war sonst mit Familie und Freunden zusammen. Da sind natürlich viel Aufregung, Freude und Erleichterung. Aber das Leben und der Kampf um Demokratie in der Türkei und anderswo gehen natürlich weiter.
STANDARD: Der Freispruch kam ja überraschend. Wie kam es dazu?
Zirngast: Ein Grund ist sicherlich, dass sich das politische Klima geändert hat. Anscheinend werden im Moment Fälle wie der unsrige schnell abgewickelt. Das ist eine oberflächliche Teilliberalisierung, die viel mit der türkischen Innenpolitik zu tun hat. Ein Schuldspruch durch das Gericht wäre nicht möglich gewesen, weil wir selbst bei einem dahingehenden Schlussplädoyer einen Aufschub zwecks angemessener Verteidigung hätten fordern können. Hinzu kommt, dass die türkische Justiz völlig überlastet ist und die Gefängnisse überfüllt sind.
Ein Mitangeklagter von mir wurde 2013 bei den Gezi-Protesten angeklagt und inhaftiert. Das Urteil wurde 2018 gefällt – sieben Jahre Haft. Dagegen wurde sofort Einspruch erhoben, und der Akt ging zum nächsthöheren Gerichtshof. Aktuell ist die Vermutung, dass ein endgültiges Urteil vielleicht erst 2022 gefällt wird – also fast zehn Jahre nach dem „Vergehen“. Das Beispiel zeigt gut, wie überlastet das System ist.
STANDARD: Wäre das Urteil anders ausgefallen, wenn Sie Türke wären?
Zirngast: Durchaus wahrscheinlich hätte es länger gedauert. Denn dass an den Vorwürfen nichts dran ist, wusste die Justiz zu jedem Zeitpunkt.
STANDARD: Wie wichtig war Unterstützung aus Österreich? Was tun Sie jetzt?
Zirngast: Sehr wichtig und schön. Die Hilfe meiner Eltern und die Solidaritätskampagne waren sehr bedeutend für mich.
Ich muss noch ein paar rechtliche und persönliche Sachen klären, etwa meinen rechtlichen Status. Dann mache ich mich daran, den Umzug zu organisieren. Spätestens Ende September werde ich in Österreich sein.
STANDARD: Halten Sie Kontakt zu Leuten in ähnlicher Situation?
Zirngast: Das war schon vor meiner Festnahme so. Mein soziales Umfeld hat sich kaum verändert. Tatsache ist, dass in der Türkei sehr viele Menschen unter noch viel absurderen Anklagen im Gefängnis sind. STANDARD: Gibt es seit dem Wahlsieg von Ekrem Imamoglu in Istanbul eine Aufbruchstimmung?
Zirngast: Die hätte es geben können, wenn die Opposition das richtig genutzt hätte. Aber dazu ist die CHP nicht wirklich in der Lage. Die Regierungsallianz ist zurzeit aber tatsächlich schwach wie schon lange nicht. Die mögliche Justizreform, die mit partiellen De-facto-Amnestien verbunden sein wird, ist auch Ausdruck davon.
Ebenso zeigt das Verfahren gegen die CHPPolitikerin Canan Kaftancioglu gut die aktuellen Machtverhältnisse. Sie wird zwar verurteilt, die Macht der AKP reicht aber nicht dazu aus, dass sie sofort ins Gefängnis kommt. Das heißt aber nicht, dass sich die Kräfteverhältnisse nicht so verschieben können, dass das irgendwann der Fall sein wird.
STANDARD: Vor kurzem erschien auch Ihr Buch. Worum geht es da?
Zirngast: Es ist ein Sammelband mit Texten von mir, meist in Kooperation mit anderen Autorinnen und Autoren, und Hintergrundtexten zu meinem Fall. Es war mir wichtig, ein politisches Buch zu machen, das über mein persönliches Schicksal hinausweist. Ich hoffe, das Buch kann auch einen kleinen Teil dazu beitragen, die Schwarz-Weiß-Wahrnehmung der Türkei, die es im Westen oft gibt, ein wenig differenzierter unter die Lupe zu nehmen.
STANDARD: Raten Sie den Leserinnen und Lesern, ihren Urlaub in der Türkei zu verbringen?
Zirngast: Es braucht niemand Angst zu haben, der keine direkte politische Tätigkeit verfolgt oder Äußerungen getätigt hat. Es gibt Elemente staatlicher Willkür in der Türkei; aber das bedeutet nicht, dass jeder, der einen kritischen Tweet absetzt, sofort ins Gefängnis kommt. Personen, die das gemacht haben, müssen die Lage selbst bewerten. Die Verantwortung kann ich nicht übernehmen. MAX ZIRNGAST (30) ist ein österreichischer Aktivist. Er wurde exakt ein Jahr nach seiner Inhaftierung in der Türkei am 11. September freigesprochen.