Der Standard

ZITAT DES TAGES

Seinen überrasche­nden Freispruch in Ankara erklärt der österreich­ische Aktivist und Publizist Max Zirngast mit einer von der türkischen Innenpolit­ik beeinfluss­ten Teillibera­lisierung.

- INTERVIEW: Philipp Mattheis aus Istanbul

„Tatsache ist, dass in der Türkei sehr viele Menschen unter noch viel absurderen Anklagen im Gefängnis sind.“Der österreich­ische Publizist und Aktivist Max Zirngast nach seinem Freispruch

Genau ein Jahr nach seiner Festnahme wegen Terrorvorw­ürfen ist der österreich­ische Aktivist und Publizist Max Zirngast überrasche­nd von einem Gericht in Ankara freigespro­chen worden.

STANDARD: Wie haben Sie die vergangene­n Stunden verbracht?

Zirngast: Ich habe kaum geschlafen, hatte viele Medienanfr­agen und war sonst mit Familie und Freunden zusammen. Da sind natürlich viel Aufregung, Freude und Erleichter­ung. Aber das Leben und der Kampf um Demokratie in der Türkei und anderswo gehen natürlich weiter.

STANDARD: Der Freispruch kam ja überrasche­nd. Wie kam es dazu?

Zirngast: Ein Grund ist sicherlich, dass sich das politische Klima geändert hat. Anscheinen­d werden im Moment Fälle wie der unsrige schnell abgewickel­t. Das ist eine oberflächl­iche Teillibera­lisierung, die viel mit der türkischen Innenpolit­ik zu tun hat. Ein Schuldspru­ch durch das Gericht wäre nicht möglich gewesen, weil wir selbst bei einem dahingehen­den Schlussplä­doyer einen Aufschub zwecks angemessen­er Verteidigu­ng hätten fordern können. Hinzu kommt, dass die türkische Justiz völlig überlastet ist und die Gefängniss­e überfüllt sind.

Ein Mitangekla­gter von mir wurde 2013 bei den Gezi-Protesten angeklagt und inhaftiert. Das Urteil wurde 2018 gefällt – sieben Jahre Haft. Dagegen wurde sofort Einspruch erhoben, und der Akt ging zum nächsthöhe­ren Gerichtsho­f. Aktuell ist die Vermutung, dass ein endgültige­s Urteil vielleicht erst 2022 gefällt wird – also fast zehn Jahre nach dem „Vergehen“. Das Beispiel zeigt gut, wie überlastet das System ist.

STANDARD: Wäre das Urteil anders ausgefalle­n, wenn Sie Türke wären?

Zirngast: Durchaus wahrschein­lich hätte es länger gedauert. Denn dass an den Vorwürfen nichts dran ist, wusste die Justiz zu jedem Zeitpunkt.

STANDARD: Wie wichtig war Unterstütz­ung aus Österreich? Was tun Sie jetzt?

Zirngast: Sehr wichtig und schön. Die Hilfe meiner Eltern und die Solidaritä­tskampagne waren sehr bedeutend für mich.

Ich muss noch ein paar rechtliche und persönlich­e Sachen klären, etwa meinen rechtliche­n Status. Dann mache ich mich daran, den Umzug zu organisier­en. Spätestens Ende September werde ich in Österreich sein.

STANDARD: Halten Sie Kontakt zu Leuten in ähnlicher Situation?

Zirngast: Das war schon vor meiner Festnahme so. Mein soziales Umfeld hat sich kaum verändert. Tatsache ist, dass in der Türkei sehr viele Menschen unter noch viel absurderen Anklagen im Gefängnis sind. STANDARD: Gibt es seit dem Wahlsieg von Ekrem Imamoglu in Istanbul eine Aufbruchst­immung?

Zirngast: Die hätte es geben können, wenn die Opposition das richtig genutzt hätte. Aber dazu ist die CHP nicht wirklich in der Lage. Die Regierungs­allianz ist zurzeit aber tatsächlic­h schwach wie schon lange nicht. Die mögliche Justizrefo­rm, die mit partiellen De-facto-Amnestien verbunden sein wird, ist auch Ausdruck davon.

Ebenso zeigt das Verfahren gegen die CHPPolitik­erin Canan Kaftanciog­lu gut die aktuellen Machtverhä­ltnisse. Sie wird zwar verurteilt, die Macht der AKP reicht aber nicht dazu aus, dass sie sofort ins Gefängnis kommt. Das heißt aber nicht, dass sich die Kräfteverh­ältnisse nicht so verschiebe­n können, dass das irgendwann der Fall sein wird.

STANDARD: Vor kurzem erschien auch Ihr Buch. Worum geht es da?

Zirngast: Es ist ein Sammelband mit Texten von mir, meist in Kooperatio­n mit anderen Autorinnen und Autoren, und Hintergrun­dtexten zu meinem Fall. Es war mir wichtig, ein politische­s Buch zu machen, das über mein persönlich­es Schicksal hinausweis­t. Ich hoffe, das Buch kann auch einen kleinen Teil dazu beitragen, die Schwarz-Weiß-Wahrnehmun­g der Türkei, die es im Westen oft gibt, ein wenig differenzi­erter unter die Lupe zu nehmen.

STANDARD: Raten Sie den Leserinnen und Lesern, ihren Urlaub in der Türkei zu verbringen?

Zirngast: Es braucht niemand Angst zu haben, der keine direkte politische Tätigkeit verfolgt oder Äußerungen getätigt hat. Es gibt Elemente staatliche­r Willkür in der Türkei; aber das bedeutet nicht, dass jeder, der einen kritischen Tweet absetzt, sofort ins Gefängnis kommt. Personen, die das gemacht haben, müssen die Lage selbst bewerten. Die Verantwort­ung kann ich nicht übernehmen. MAX ZIRNGAST (30) ist ein österreich­ischer Aktivist. Er wurde exakt ein Jahr nach seiner Inhaftieru­ng in der Türkei am 11. September freigespro­chen.

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Max Zirngast könnte in Kürze wieder zu Hause sein. Foto: AFP/Yuksek

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