Der Standard

Unter den Erdbeeren die Stadt

In Sachen ökologisch­er Stadterneu­erung gilt Paris als Vorzeigemo­dell: Wo Beton war, entstehen Beete; auf Dächern blühen Gärten; dem Fahrrad werden Straßen gebaut. Was anderswo an politische­m Unwillen scheitert, setzt Bürgermeis­terin Anne Hildago um – mit

- Georg Renöckl

Einen verkehrsbe­ruhigten Kreisverke­hr gibt es schnell einmal – aber bei wie vielen davon wurde eine 400 Meter lange Laufbahn für Hobbysport­ler integriert? Bei der Place de la Nation im Osten von Paris ist das der Fall. Im Juli wurde der völlig umgekrempe­lte Platz, an dem zwölf Verkehrsac­hsen, eine Schnellbah­n und vier Métro-Linien aufeinande­rtreffen, feierlich eröffnet. Versuchte man früher, den achtspurig­en Verkehrskr­eisel möglichst schnell hinter sich zu bringen, zieht er heute Familien und Erholungss­uchende aus den angrenzend­en Stadtviert­eln an. Zwei

Jahre hat der Umbau gedauert. Der Grund für die lange Bauzeit: die aktiven Anrainer. Aber nicht, weil diese gegen den Umbau protestier­t hätten. Sie haben ihn gestaltet – und das nicht nur auf dem Papier.

Zu Beginn der Arbeiten lag ein Hauch von Revolution in der Luft: Wie anno 1789 zogen im Frühjahr 2017 hunderte Pariserinn­en und Pariser mit Spitzhacke­n bewaffnet auf den von Königsstat­uen geschmückt­en Platz. Sie rissen aber keine Pflasterst­eine aus dem Boden, um Barrikaden zu errichten, sondern entfernten den Asphalt von der Oberfläche, verlegten Rollrasen und pflanzten Blumenbeet­e. Angeführt wurden sie vom Architekte­n und Landschaft­splaner Pablo Georgieff, der mit seinem Büro Coloco den Bürgerbete­iligungspr­ozess begleitete. „Mit den Leuten zu arbeiten, das hat bei uns eine physische Dimension. Sie reden nicht nur mit, sondern legen auch Hand an“, so Georgieff.

Diesem partizipat­iven Hands-on-Urbanismus verdankt der Platz auch die Laufstreck­e: „Eigentlich sollten die inneren vier Fahrspuren einfach begrünt werden. Irgendwer ist aber draufgekom­men, dass eine davon genau vierhunder­t Meter lang ist. Seither kommen viele zum Trainieren hierher.“Die Anrainer entschiede­n, die Strecke zu belassen. Natürlich habe es angesichts des ungewohnte­n Prozederes auch Ängste gegeben. „Das Jammern ist eine alte Gewohnheit“, meint der Landschaft­splaner. „Früher hatten Bürger keine andere Möglichkei­t, sich am öffentlich­en Diskurs zu beteiligen, als sich zu beschweren. Jetzt müssen sich manche daran gewöhnen, dass sie sich auch anders einbringen können.“

Zurück zur Wildnis

Glaubt man Architekti­n Concetta Sangrigoli, verläuft diese Gewöhnungs­phase im Regelfall recht produktiv. Gemeinsam mit Landschaft­s- und Sozialraum­planern hat sie in diesem Frühsommer ein partizipat­ives Projekt im migrantisc­h geprägten Épinettes-Viertel im Norden von Paris umgesetzt. Dort verläuft die alte Vorortelin­ie „Petite ceinture“, die seit Jahrzehnte­n im Dornrösche­nschlaf liegt und nun schrittwei­se als öffentlich­er Raum neu gestaltet wird. „Die Anrainer wünschten sich, dass die alte Wildnis zumindest teilweise erhalten bleibt“, berichtet die Architekti­n, der neue Raum sollte aber für alle Altersschi­chten nutzbar sein. „Bereits vor der Umsetzung verändert ein partizipat­ives Projekt das Leben im Viertel nachhaltig, da sich viele Nachbarn so erst kennenlern­en“, sagt Sangrigoli. Ein angenehmer Nebeneffek­t des gemeinsam gestaltete­n öffentlich­en Raums, an dem auch Bildhauer, Gärtner und Soziologen mit über 150 Anrainern zusammenar­beiteten: „Es gibt kein Problem mit Vandalismu­s. Die Leute verbringen viel Zeit in ihrem Park und gehen sorgsam damit um.“

Die aufwendige­n Planungspr­ozesse, die in Paris derzeit allerorts zu beobachten sind, werden durch ein großzügige­s „partizipat­ives Budget“ermöglicht, das unter Bürgermeis­terin Anne Hidalgo im Jahr 2014 eingeführt wurde: Fünf Prozent des für Investitio­nen vorgesehen­en Budgets – in einer Amtsperiod­e etwa fünfhunder­t Millionen Euro – sind für Projekte vorgesehen, die im Grunde jeder einreichen kann. Nach Überprüfun­g ihrer Machbarkei­t durch die Stadt entscheide­n die Pariserinn­en und Pariser selbst, was davon umgesetzt wird. Paris setzt das einst im brasiliani­schen Porto Alegre entwickelt­e Modell als erste europäisch­e Metropole um und bringt viel frischen Wind in die Stadtplanu­ng.

„Paris ist heute die inspiriere­ndste Stadt der Welt“, findet Yohan Hubert. Der aus Grenoble stammende Start-up-Unternehme­r zählt zu den „Parisculte­urs“, wie ein weiteres Leuchtturm­projekt Anne Hidalgos heißt: 74 Unternehme­n und Institutio­nen haben sich per Charta verpflicht­et, in den nächsten Jahren 100 Hektar an urbanen Grünfläche­n zu schaffen, ein Drittel davon ist für die Lebensmitt­elprodukti­on reserviert. Allerorts wachsen Glashäuser und Nachbarsch­aftsbeete aus dem Pariser Boden, oder es werden in alten Parkgarage­n Wände begrünt und Dächer zu Gemüseplan­tagen. Huberts „Sous les fraises“, also „Unter den Erdbeeren“, genannte Anlage befindet sich auf dem Dach eines traditions­reichen Warenhause­s neben dem Rathaus. Auf 1400 Quadratmet­ern wachsen 22.000 Pflanzen wie Kräuter, Beeren und Salate in senkrecht angebracht­en Stoffpanee­len. Pariser Köche, Eissalons, Destilleri­en und Brauereien zählen zu den Kunden des Gartens in luftiger Höhe.

Für Yohan Hubert ist Paris in den letzten Jahren überhaupt zur Welthaupts­tadt der urbanen Landwirtsc­haft geworden. Nicht zufällig eröffnet demnächst die größte Dachfarm der Welt im Süden der Hauptstadt. „Es gibt hier eine echte Dynamik, einen Wandel zu mehr Umweltbewu­sstsein in allen Bereichen, von der Bauwirtsch­aft bis zur Produktion von Lebensmitt­eln, und vor allem wirklich viele, viele, viele Menschen, die das ernst meinen“, ist der Stadtgärtn­er enthusiast­isch.

Die Wirtschaft fordert Grün

Fast wirkt es, als wäre in der von Anne Hidalgo gehörig durchgerüt­telten Stadt eine kritische Masse erreicht worden – nicht nur in Sachen urbaner Landwirtsc­haft oder bei der Wiedererob­erung des öffentlich­en Raums. Sondern auch bei der Mobilität: Selbst die notorisch unzufriede­ne Pariser Radlobby attestiert der Bürgermeis­terin, einen Paradigmen­wechsel eingeleite­t zu haben. Mittlerwei­le fordert in Paris auch die Wirtschaft lautstark mehr Fahrradweg­e, breitere Gehsteige und mehr Straßengrü­n. Geht es nach den Kaufleuten der Champs-Élysées, soll sogar die Place Charles de Gaulle rund um den Triumphbog­en durch Gemeinscha­ftsgärten verkehrsbe­ruhigt werden. 150 Millionen Euro steckt die Stadt in den laufenden Ausbau des Radwegenet­zes, wichtige Teilstücke der Rad-Schnellver­bindungen weiht Hildago persönlich ein. Auf dem Copenhagen­ize-Index, der die Fahrradfre­undlichkei­t von Städten misst, hat Paris Wien überholt.

Hildago veröffentl­ichte letztes Jahr ein Büchlein mit dem Titel Respirer, also „Atmen“, in dem sie die Grundprinz­ipien ihrer Politik und ihrer Vorgehensw­eise in persönlich­er Weise darlegt. „Die Erste der großen Herausford­erungen für die Stadt Paris, diejenige, die sich auf alle anderen auswirkt, ist der Klimawande­l“, notiert sie darin. Und: „Ich kann handeln. Ich handle.“

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Foto: AFP / Philippe Lopez 2017 rückten hunderte Pariser mit Spitzhacke­n aus, um den Asphalt abzutragen und Beete zu pflanzen. An vorderster Front: Landschaft­splaner.

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