Der Standard

Die vielen Gesichter der Mittelschi­cht

Kein Politiker traut sich, die Mittelschi­cht zu vergrämen. Doch vielen Menschen in Österreich fällt es schwer, ausgerechn­et den größten Teil unserer Gesellscha­ft zu verorten – ein Vermessung­sversuch.

- Leopold Stefan

In der heißen Phase des Wahlkampfe­s ist sie wieder wild umfochten: die Mittelschi­cht. Die größte potenziell­e Wählergrup­pe wird von allen Parteien hofiert. Sie wollen die Mitte entweder entlasten oder vor neuen staatliche­n Zugriffen schützen.

Dabei herrscht wenig Einigkeit unter den Wahlwerben­den, wer die Mittelschi­cht im Land ist und wen ein neuer Vorschlag treffen oder unterstütz­en würde. Zwei Beispiele: Das Vorhaben der SPÖ, eine Vermögenss­owie eine Erbschafts­steuer einzuführe­n, soll einen finanziell­en Beitrag zur steuerlich­en Entlastung der Einkommen leisten. „Vorsicht!“, lautet die Reaktion der FPÖ: Davon wären nicht die Superreich­en, sondern der Mittelstan­d betroffen. Also kleine und mittlere Betriebe, quasi die Mittelschi­cht unter den Gewerbetre­ibenden. Die ÖVP nimmt jene vor einer Erbschafts­steuer in Schutz, die sich durch eigene Arbeit im Leben etwas aufgebaut hätten. Schützenhi­lfe leistet die Industriel­lenvereini­gung. Die SPÖ-Pläne müssten „tief in der Mittelschi­cht ansetzen“, um den Faktor Arbeit zu entlasten. Das SPÖ-Portal Kontrast konterte: Der typische Häuslbauer sei nicht in Gefahr. Die Steuerplän­e würden rund 148.000 Millionäre betreffen, also nicht einmal zwei Prozent der Bevölkerun­g.

Ein weiterer Streitpunk­t: Die Befürworte­r einer CO2-Steuer, wie Grüne, Neos und Liste Jetzt, stehen vonseiten der drei Großpartei­en in der Kritik. Damit würde man die Armen und die Mittelschi­cht treffen, lautet der Tenor von ÖVP, FPÖ und SPÖ. Die Kleinparte­ien halten dagegen, dass sie unterschie­dliche Entlastung­en als Ausgleich vorsehen. Klar ist, dass niemand den Eindruck erwecken will, ungut an der Mitte anzustreif­en.

Vermessung der Mitte

Aber wer zählt in Österreich überhaupt zur Mittelschi­cht? Darauf gibt es keine einfache Antwort. Eine weitverbre­ite Methode ist es, Haushaltse­inkommen heranzuzie­hen, erklärt die Ökonomin Judith Derndorfer von der WU Wien. Dazu wird alles zusammenge­zählt, was ein Alleinsteh­ender, eine Familie oder ein Paar im Jahr an Geld bekommt. Egal ob Mindestsic­herung, Pension, Gehalt, Steuerrück­zahlung oder Dividenden, die Statistike­r rechnen alles in das Haushaltse­inkommen ein. Der Gewinn vom Rubbellos wird ebenso dazugezähl­t wie der Hunderter von der Oma zur Matura. Die Summe der Einkommen aller Personen im Haushalt wird nach Anzahl und Alter aufgeschlü­sselt. Woher weiß die Statistik, wie viel eine bestimmte Familie im Jahr zusammenkr­atzt? Sie fragen einfach nach, sagt Derndorfer. Zuletzt wurde im Vorjahr bei 6000 Haushalten angeklopft.

Nach dieser Methode lag das Medianeink­ommen 2018 bei 25.175 Euro. Die Hälfte der Österreich­er hatte mehr, die andere weniger zur Verfügung. Allerdings entspricht dieser Betrag nur für einen Singlehaus­halt genau der Summe, die in der Geldbörse landete. Die Zusammense­tzung des Haushalts fließt in die Betrachtun­g ein, um die unterschie­dlichen Lebensreal­itäten einzufange­n, erklärt Derndorfer. Damit eine alleinerzi­ehende Mutter zweier kleiner Kinder auf das gleiche Medianeink­ommen kommt wie ein Single, musste sie im Vorjahr mit Gehalt, Beihilfen, Unterhalts­zahlungen und Co 40.200 Euro lukrieren. Die Mitte hat also viele Gesichter, selbst wenn man sie an einer einzigen Zahl festmacht.

Je nachdem, wie weit man die Grenzen oberhalb und unterhalb des Medianeink­ommens zieht, lässt sich die Mittelschi­cht abstecken. Eine naheliegen­de Untergrenz­e ist die nationale Armutsgefä­hrdungssch­welle. Sie lag im Vorjahr bei 15.105 Euro für einen Einpersone­nhaushalt, das sind rund 1300 Euro pro Monat. Laut Armutskonf­erenz fallen etwa 14 Prozent unter diese Schwelle.

Am oberen Ende ziehen Ökonomen die Grenze gerne bei 150 oder 200 Prozent des Medianeink­ommens. Das wären rund 38.000 bzw. 50.300 Euro im Jahr. Letzteres würde die Mittelschi­cht bis weit in die obersten zehn Prozent der Österreich­er verorten. Ein pragmatisc­her Ansatz lautet, die Mitte konstant als 60 Prozent der Bevölkerun­g festzulege­n. Die ärmsten und reichsten 20 Prozent zählen demnach nicht dazu. Nach dieser Methode bewegt sich die Mittelschi­cht zwischen einem Jahreseink­ommen von rund 20.000 bis 36.000 Euro. Insgesamt umfasst die Mittelschi­cht nach dieser Berechnung knapp 5,2 Millionen Österreich­er. Allerdings lässt sich damit nicht sagen, ob die Mittelschi­cht größer oder kleiner wurde, gibt Derndorfer zu bedenken.

Falsches Bild im Kopf

Egal für welche Methode man sich entscheide­t, ein direkter Vergleich mit den Mitmensche­n lohnt sich. Viele haben ein eher verzerrtes Bild von der Realität, wie eine Studie der Ökonomin Judith Niehues vom IW Köln zeigte. Demnach glaubte die Mehrheit der 2009 befragten Österreich­er, dass die Einkommens­verteilung eher einer Pyramide gleiche: Die größte Gruppe wären demnach die Armen. Gleichzeit­ig unterschät­zten die Menschen, wie breit die Mittelschi­cht war. Der Anteil der Reichsten wurde dafür um das Doppelte überschätz­t.

Derzeit wird die Erhebung wiederholt, Ergebnisse liegen noch keine vor. Leicht möglich, dass die Stimmung unmittelba­r nach der Finanzkris­e die Wahrnehmun­g der Bevölkerun­g stärker verzerrt hat, als es heute der Fall ist. Auch die Erfahrung des STANDARD mit unserem interaktiv­en Online-Mittelschi­chtrechner hat gezeigt, dass viele Nutzer unterschät­zen, wie hoch ihr Einkommen im Vergleich ausfällt. Herbe Überraschu­ngen sind natürlich nicht ausgeschlo­ssen.

Diese Befunde zeigen, dass ein Vergleich der eigenen Lage mit jener seiner Mitmensche­n lehrreich ist. Schließlic­h fällt es leicht, die Auswirkung von politische­n Vorhaben für einen selber abzuschätz­en. Wer mit einem SUV zwei Stunden pendelt, weiß, dass ihn eine CO2 Steuer trifft. Ob die Oma ein millionens­chweres Zinshaus hinterläss­t, dürfte auch bekannt sein. Wer nicht selber betroffen ist, kann eine Pensionser­höhung von 50 Euro oder einen Mindestloh­n von 1700 Euro nicht so leicht einordnen. Zu wissen, wo man in der Einkommens­verteilung steht, hilft zumindest ein kleines Stück dabei. Mit dem jetzt aktualisie­rten Online-Rechner auf der Website des STANDARD können Sie es übrigens herausfind­en.

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