Stenzel, die gute Hirtin
Betrifft: Stenzel bei den Identitären
Zieht man die Sichtweise von Karl Marx heran, dass der geistige Überbau, nämlich in diesem Fall die Wertordnung und Ethik, eine Resultante der Gegebenheiten ist, dann nimmt es nicht wunder, dass heutzutage gerade die Perspektive einer sich ändernden Bevölkerungszusammensetzung in Wien auch eine andere Einschätzung der einstigen Rolle Wiens in der Verteidigung des historischen Abendlandes verständlich macht.
Das Eintreten der Stadträtin Ursula Stenzel für das, was das Selbstverständnis Österreichs in einer langen Periode seiner Geschichte ausmachte, verdient grundsätzlich wohl Anerkennung, zumindest Respekt. Unabhängig davon, dass Frau Stenzel nach ihren eigenen Angaben nicht bekannt war, dass es sich bei der in Rede stehenden Gedenkveranstaltung um eine Initiative mit wesentlicher Beteiligung der viel gescholtenen Identitären handelte, ist zu hören, dass die Identitären in ihrer Programmatik auf die sehr konservativ-katholischen PiusBrüder zurückgehen. Diese legen die Lehre Christi offenbar anders aus, als dies derzeit in der Amtskirche der Fall ist. Sie sehen in Jesus keineswegs einen Globalisierer, sondern dass er sehr wohl zwischen der eigenen Gruppe und anderen Gruppen unterschieden hat. Derzeitige Bestrebungen, die Identitären zu verbieten, wären dann besser verständlich, wenn die dafür maßgeblichen Argumente detaillierter bekannt wären.
Wenn die Frau Stenzel bei der Gedenkveranstaltung das Wort ergriffen hat, möglicherweise vor Menschen, die in manchen Bereichen nicht ihrer politischen Auffassung entsprechen, so erscheint noch ein anderer Gedanke aus der Heiligen Schrift maßgeblich, nämlich das Gleichnis vom guten Hirten, der die Mehrheit seiner guten Schafe einige Zeit allein lässt, um sich der Suche nach einem verlorenen Schaf zu widmen. So gesehen entspricht es wohl dem Auftrag Christi, nach vorherrschender Auffassung möglicherweise Irrende oder Abtrünnige nicht abzuschreiben und auszugrenzen, sondern sie wieder in den Gesamtkonsens unserer Österreicher zurückzuführen. Eine Vorschreibung, mit wem man reden darf, ja die eigentliche Kriminalisierung derartiger Kontakte steht im Gegensatz zu jenem Konsens, der in Österreich auf die Gespräche in damaligen Konzentrationslagern inhaftierter Patrioten zurückgeht. Derzeit zu beobachtende Vorgänge zeigen ein Verlassen dieses Einverständnisses Richtung Intoleranz, ja Spaltung. Heinrich Birnleitner, 4676 Aistersheim