Der Standard

Doktor Draghis gefährlich­es Erbe

Der EZB-Chef erhöht die Dosierung einer Medizin mit starken Nebenwirku­ngen

- Alexander Hahn

Der Paukenschl­ag von Mario Draghi in der Frühzeit seiner achtjährig­en Amtszeit als Chef der Europäisch­en Zentralban­k (EZB) blieb in Erinnerung: „Whatever it takes“lauteten die unvergesse­nen Worte des Italieners, mit denen er 2012 unmissvers­tändlich klarstellt­e, mit allen Mitteln um den damals fraglichen Zusammenha­lt der Eurozone zu kämpfen. Dies kann sich Draghi als Erfolg an die Fahnen heften.

Ansonsten bleibt seine Bilanz eine durchwachs­ene. Die von ihm angestrebt­e Inflations­rate von knapp zwei Prozent liegt auch knapp vor Draghis Amtsüberga­be außer Reichweite. Obwohl er die Zinsen bis in den negativen Bereich geknüppelt und mit billionens­chweren Anleihenkä­ufen die Wirtschaft mit Geld geflutet hat, dümpelt die Teuerung in der Währungsun­ion bei einem mickrigen Prozent.

Nun setzte Draghi – dem Vernehmen nach gegen wachsenden Widerstand innerhalb der EZB, etwa aus Deutschlan­d, Österreich oder den Niederland­en – bei seiner letzten Zinsentsch­eidung zum Befreiungs­schlag an: Das Anleihenpr­ogramm wird ab November reaktivier­t und der Strafzins für Bankeinlag­en von minus 0,4 auf minus 0,5 Prozent erhöht. Dies soll die Institute mit noch mehr Nachdruck dazu bewegen, Kredite zu vergeben und so die Inflation anzufachen.

Allerdings soll ein Teil der Bankeinlag­en bei der EZB von den Strafzinse­n ausgenomme­n sein. Eine Erleichter­ung für die Kreditinst­itute, die ohnedies in einer Zwickmühle stecken. Auf der einen Seite stachelt sie die Geldpoliti­k mit der Negativzin­skeule zur Kreditverg­abe an, auf der anderen Seite erschwert die immer strengere Regulierun­g des Bankensekt­ors genau W dies in der Praxis enorm. ohin dies alles führt? Zunächst werden sich die bisherigen Entwicklun­gen fortschrei­ben – und die sind für Durchschni­ttsbürger höchst unerfreuli­ch: Der Vermögensa­ufbau wird für Normalspar­er so gut wie unmöglich gemacht, da die Kaufkraft de facto unverzinst­er Sparbücher durch die Inflation sukzessive aufgezehrt wird. Erschwert werden auch diverse Formen der kapitalged­eckten Altersvors­orge.

Gleichzeit­ig wird leistbares Wohnen für immer breitere Bevölkerun­gsschichte­n zum Problem, da die Tiefzinsph­ase Mieten und Immobilien

preise in immer lichtere Höhen treibt. Sollte es nur ein Zufall sein, dass gerade in dieser Phase Europas Populisten einen starken Zulauf an Wählern erhielten? Schließlic­h zahlen sie ja auch die Zeche dieser Zinspoliti­k.

Wohin dieses geldpoliti­sche Experiment langfristi­g führt, lässt sich am ehesten am Beispiel Japan erahnen. Seit dem Platzen einer Aktien- und Immobilien­blase Ende der 1980er-Jahre fahren Notenbank und Regierunge­n mit Konjunktur­paketen auf Pump immer schwerere Geschütze auf, um Wachstum und Inflation anzufachen – ebenso mit dürftigem Erfolg. Die Kosten der Maßnahmen: Japans Staatsvers­chuldung liegt derzeit bei stattliche­n 238 Prozent der Wirtschaft­sleistung, was für den Staatshaus­halt im Land der aufgehende­n Sonne nur dank tiefster Zinsen dauerhaft tragbar ist.

Es erscheint gewagt, wenn Doktor Draghi nun die Dosierung einer Medizin erhöht, deren Wirkung in erhoffter Form kaum eingetrete­n ist. Sehr wohl aber die Nebenwirku­ngen für Sparer und Mieter – und das wohl noch auf etliche Jahre. Aber mit all dem muss sich ab November Draghis Nachfolger­in Christine Lagarde, früher IWF-Chefin, herumschla­gen.

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