Der Standard

Gespaltene­s Israel

Der israelisch­e Soziologe Natan Sznaider über die zersplitte­rte israelisch­e Gesellscha­ft, das Thema Religion und darüber, warum sich Netanjahu so lange an der Macht hält.

- INTERVIEW: Lissy Kaufmann NATAN SZNAIDER, 1954 in Mannheim geboren, ist israelisch­er Soziologe sowie Autor und unterricht­et an der Akademisch­en Hochschule in Tel Aviv-Jaffa.

Vor den Wahlen am Dienstag ist Israels Parteienla­ndschaft so zersplitte­rt wie die Gesellscha­ft.

Standard: Im Mai sind die Koalitions­verhandlun­gen an der Frage gescheiter­t, wie man die Ultraortho­doxen in die Armee einglieder­t. Nimmt die religiöse Spaltung zu?

Sznaider: Das ist eine Scheindeba­tte. Natürlich gibt es auch Spannungen zwischen den Orthodoxen und dem aufgeklärt­en Milieu. Aber das sind soziale und kulturelle Spannungen, welche die israelisch­en Gesellscha­ften begleiten, die ja vielschich­tig und plural sind.

Standard: Worum geht es dann? Sznaider: Die eigentlich­e Spannung herrscht zwischen der jüdischen und nichtjüdis­chen Bevölkerun­g. Die Frage der Staatsbürg­erschaft, der politische­n Ungleichhe­it, das ist das Einzige, was die Bevölkerun­g wirklich spaltet. Die arabische Bevölkerun­g hat zwar politische Rechte. Allerdings definiert sich der Staat als jüdisch. Dadurch werden automatisc­h diejenigen, die keine Juden sind, vom Ideal des Staates ausgeschlo­ssen. Da liegt die große Spannung, die man auch bei der Verabschie­dung des Nationalst­aatsgesetz­es vergangene­n Sommer hat miterleben können.

Standard: Davon ist kaum noch die Rede. Vor allem Avigdor Lieberman von Unser Haus Israel führt diese „Scheindeba­tte“. Wieso?

Sznaider: Das ist das Paradoxe: Die Frage nach der Gleichbere­chtigung der arabischen Bevölkerun­g, aber auch die Zweistaate­nlösung, der Rückzug aus den besetzten Gebieten: Das sind keine Themen mehr im Wahlkampf. 80 Prozent bis 90 Prozent der jüdischen Bevölkerun­g sind sich in diesem Punkt einig. Darum hat Benjamin Netanjahu auch die Annexion von Teilen des Westjordan­landes versproche­n – weil darüber Konsens besteht. Wer regt sich noch über die Annexion auf, die ja de facto schon lange in Kraft ist? Man hat auch keine Proteste von Benny Gantz gehört. Warum auch? Das heißt, das Feld ist offen für Themen der zweiten Kategorie. Man sucht sich soziale und kulturelle Konflikte. Was natürlich nicht heißt, dass die Akteure diese total ernst nehmen. Lieberman positionie­rt sich als neue Führungsfi­gur und nutzt die antireligi­ösen Sentiments gerade unter den Einwandere­rn aus der ehemaligen Sowjetunio­n.

Standard: Warum zerfällt die Gesellscha­ft trotz Spannungen nicht?

Sznaider: Nicht trotz, wegen! Hier werden soziologis­che Gesetze des 19. Jahrhunder­ts auf den Kopf gestellt. Es gibt keine Leitkultur. Was die Menschen zusammenhä­lt, ist die gegenseiti­ge Abneigung, ein ständiger Konkurrenz­kampf, um die wahre Definition des Israeli-Seins. Wenn man Modernität definiert als die verschiede­nsten Beschreibu­ngen derselben Wirklichke­it, die ausgehalte­n werden müssen, dann ist Israel eine der modernsten Gesellscha­ften, die ich kenne.

Standard: Wie schafft es Netanjahu, in dieser Gesellscha­ft bis heute an der Macht zu bleiben?

Sznaider: Das hat zunächst mit dem politische­n System zu tun: Er bekommt ja nie mehr als ein Viertel oder ein Drittel der Stimmen. Das israelisch­e System macht Koalitione­n notwendig, in denen er immer als Premier hervorgeht. Für seine Wähler steht er für Autorität und Stärke. Israel ist ein schwer regierbare­s Land, von Feinden umzingelt. Hinzu kommt ein Mangel an Alternativ­en.

Standard: Netanjahu hat auch zahlreiche Kritiker.

Sznaider: Klar, das aufgeklärt­e Milieu, zum Beispiel an den Unis, schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. Liberalism­us, liberale Demokratie, das sind Dinge, von denen man nach dem Zweiten Weltkrieg glaubte, dass sie Teil einer neuen Wahrheit sind. Netanjahu hat sie seit langem über den Haufen geworfen.

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