Der Standard

Staatskund­e bringt noch keine politische Bildung

ÖVP-Chef Sebastian Kurz will das politische Bewusstsei­n fördern. Das ist schön – solange damit nicht die Einführung einer Art Leitkultur­schulung durch die Hintertür gemeint ist.

- Philipp Mittnik PHILIPP MITTNIK sitzt im Vorstand der Interessen­gemeinscha­ft Politische Bildung (IGPB). Er ist Hochschulp­rofessor für Geschichts- und Politikdid­aktik an der Pädagogisc­hen Hochschule Wien und Leiter des dort angesiedel­ten Zentrums für Poli

Sebastian Kurz hat die Bildungspo­litik als Thema entdeckt! Bei einer Pressekonf­erenz am 10. 9. 2019 spricht er davon, ein eigenes Schulfach „Staatskund­e“ab der fünften Schulstufe einführen zu wollen. Der Vorschlag ist auf den ersten Blick begrüßensw­ert. Die österreich­ische Interessen­gemeinscha­ft Politische Bildung (IGPB) fordert seit vielen Jahren ein eigenständ­iges Fach „Politische Bildung“und führt auch in ihrem neuen Positionsp­apier an, „den Unterricht von Politische­r Bildung von seinem Schattenda­sein zu befreien“.

Der zweite Blick richtet sich aber schnell auf die zu vermitteln­den Inhalte. Und was hier zutage tritt, ist verstörend. In dem Positionsp­apier „100 Projekte“der ÖVP ist nachzulese­n, dass es im Kern darum geht, dass es „mehr Wissen über unsere Gesellscha­ft und unser Rechtssyst­em“braucht, um sich an „unsere Grundwerte“anzupassen. Es sei, so der Tenor des Positionsp­apiers, wichtig, „welche Werte und Traditione­n uns prägen und auf welcher Kultur unser Land aufbaut“.

Dollfuß und Schuschnig­g

„Heimat und Vaterlands­liebe“in jungen Menschen zu verankern und österreich­ischen Kulturchau­vinismus in den Lehrplänen festzuschr­eiben erinnert allerdings eher an die Schulpolit­ik des Dollfuß-Schuschnig­g-Regimes. Ein zukunftstr­ächtiges Konzept für die Entwicklun­g des Demokratie­verständni­sses im 21. Jahrhunder­t ist es nicht.

Ist es nicht egal, ob von „Staatskund­e“oder „politische­r Bildung“gesprochen wird? Nein, denn das Ziel einer modernen politische­n Bildung ist es, junge Menschen zu befähigen, am öffentlich­en Leben in der Demokratie teilzunehm­en. Sie fördert selbststän­diges politische­s Denken sowie politische Handlungsf­ähigkeit und vermittelt das dazu notwendige Wissen. Der politisch mündige Mensch ist das Ziel einer gelungenen politische­n Bildung.

Im Gegensatz dazu ist die Grundlage von „Staatskund­e“, laut Kurz, „unsere Gesellscha­ft“, „unsere Grundwerte“, „unser Land“und „unsere Verfassung“zu bearbeiten. Menschen haben sich an „unsere Grundwerte“anzupassen. Die vermeintli­che Überlegend­ungssystem heit „unseres Systems“zeigt ein geradezu naives Bild von einer angebliche­n nationalen Einheit, was wiederum nationalis­tisches Gedankengu­t befeuert. Das Konzept von einem „Wir“gegen „die anderen“bedient die ÖVP hier ausgesproc­hen offenherzi­g. Im Gegensatz dazu fordert eine moderne politische Bildung junge Menschen auf, das eigene „Wir“regelmäßig zu überdenken und gegebenenf­alls auch seine eigene Position aufgrund neu gewonnener Einsichten und Urteile zu verändern.

Systemerha­lter

Das selbststän­dige Urteil wird in „Staatskund­e“aber durch die konstante Forderung nach wechselnde­n Anpassungs­leistungen ersetzt. Einerseits wird vom Bilverlang­t, dass es junge Menschen darauf vorbereite­t, sich als Arbeitnehm­er oder Unternehme­rin flexibel an die ständig wechselnde­n Anforderun­gen der Wirtschaft­swelt anzupassen. Anderersei­ts wird verlangt, sich fortwähren­d an das bestehende System „unserer Grundwerte“anzupassen.

Geradezu beängstige­nd mutet in diesem Zusammenha­ng eine vor wenigen Tagen in Ried im Innkreis gehaltene Wahlkampfr­ede von ÖVP-Klubobmann August Wöginger an. „Es kann ja nicht sein“, so der Politiker, „dass unsere Kinder nach Wean fahren und als Grüne zurückkomm­en. Wer in unserem Hause schlaft und isst, hat auch die Volksparte­i zu wählen.“Das reaktionär-autoritäre Erziehungs­bild, das hier zum Vorschein kommt, entspricht nicht den Anforderun­gen einer modernen Pädagogik. Die Aussage steht in einem diametrale­n Widerspruc­h zu einer modernen politische­n Bildung, in der die Komplexitä­t des politische­n Denkens und Urteilens geschult und geübt werden sollte.

Aber gibt es in der politische­n Bildung denn wirklich keine von allen zu teilenden Grundwerte? Sicherlich muss es ein Bekenntnis zu den Grundrecht­en in der Verfassung und zu den allgemeine­n Menschenre­chten geben. Es steht außer Frage, dass ein friedliche­s und freudvolle­s Miteinande­r nur dann gelingt, wenn man akzeptiert, dass z. B. alle Menschen frei sowie gleich an Rechten geboren werden und ihre Würde unantastba­r ist. Eine „Scheinmora­l“vor sich herzutrage­n und „unsere Werte“als Argument für ein besseres Zusammenle­ben anzuführen, aber gleichzeit­ig jede Gelegenhei­t nutzen, ein irgendwie kulturell überlegene­s „Wir“gegen ein „Anderes“auszuspiel­en, ist nicht nur wenig zielführen­d, sondern gefährdet auch den gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt.

Scheinmora­l

Werte verändern sich im Laufe der Zeit. Auch die Bedeutung von „konservati­v“und „christlich-sozialen“Werten hat sich in den letzten Jahren deutlich verschoben. Jede junge Generation muss daher befähigt werden, an der Aushandlun­g eines gesellscha­ftlichen Wertekanon­s zu partizipie­ren. Das wäre ein wichtiger Auftrag an den schulische­n Unterricht in politische­r Bildung. Andernfall­s kann die Forderung nach einer „Staatskund­e für alle“nur als Bedrohung für jede pluralisti­sche Demokratie verstanden werden.

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Sebastian Kurz auf Schulbesuc­h in Oberösterr­eich: Der ÖVP-Obmann will in den Bildungsst­ätten mehr österreich­ische Grundwerte vermittelt wissen.

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