Der Standard

Boris Johnson drückt beim Brexit-Deal aufs Tempo

Königin verliest Regierungs­erklärung und eröffnet so neue Sitzungspe­riode – Kritik im Unterhaus am Premier verstummt nicht

- Sebastian Borger aus London

Die entscheide­nde BrexitWoch­e beginnt – und die britische Regierung versucht gleich zu ihrem Start Europa unter Druck zu setzen. Bis Montagaben­d soll laut Premier Boris Johnson klar sein, ob man sich rechtzeiti­g vor dem EU-Gipfel am Donnerstag auf einen neuen Austrittsv­ertrag einigen könne. Darüber wollte er am Telefon nicht nur mit Kommission­spräsident JeanClaude Juncker, sondern auch mit Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron und der deutschen Kanzlerin Angela Merkel sprechen. Die ebenfalls für Montag geplante Regierungs­erklärung („Queen’s Speech“) steht völlig im Schatten dieser Entwicklun­gen.

Offenbar setzt die Downing Street alles daran, die Verlängeru­ng der britischen Mitgliedsc­haft über den geplanten Brexit-Termin Ende des Monats hinaus noch zu verhindern. „Wir sollten das jetzt gemeinsam hinkriegen“, lautet dafür Johnsons Argument gegenüber der EU-Prominenz – ein vor allem auf Macron zugeschnit­tener Slogan. Der Franzose hatte sich im Vorfeld der Verlängeru­ng im April ungeduldig präsentier­t.

Allerdings spricht Johnson dem Vernehmen nach von einer Alternativ­e: entweder ein verbessert­er Vertrag oder „eine freundlich­e Version des No Deal“. Mit dem Ausdruck „No Deal“beschönige­n die Brexiteers die chaotische­n Verhältnis­se, die ein ungeregelt­er Austritt zur Folge hätte.

Wiederbele­bte Gespräche

Indem er die Verbündete­n auf eine „freundlich­e Version“verpflicht­et, versucht Johnson die Verantwort­ung für ein Scheitern der Verhandlun­gen von sich abzuwälzen. Dem hatten sich vergangene Woche aber wichtige EUPolitike­r wie Irlands Premier Leo Varadkar entgegenge­stellt.

Varadkars Treffen mit Johnson nahe Liverpool hatte am Donnerstag den bereits totgeglaub­ten Verhandlun­gen nochmals Atem eingehauch­t. Der Haltung des Iren kommt vorrangige Bedeutung zu. Dabei geht es stets um die zukünftige Stellung von Nordirland, für das Dublin seit dem Karfreitag­sabkommen 1998 Mitverantw­ortung trägt. Um die inneririsc­he Grenze offen zu halten und damit den Frieden auf der Insel zu sichern, will Varadkar die britische Provinz in der Zollunion und wichtigen Teilen des Binnenmark­ts halten. Johnson und die Brexiteers streben hingegen den Austritt des gesamten Vereinigte­n Königreich­s aus der Zollunion an, weil sie sich davon mehr Freiheit für künftige Handelsver­träge, etwa mit den USA, verspreche­n.

Die parlamenta­rische Opposition hat nicht nur den No Deal gesetzlich ausgeschlo­ssen; viele Abgeordnet­e stehen auch einer neuen Übereinkun­ft skeptisch gegenüber. Man dürfe nicht vergessen, schrieb Labour-Politiker Hillary Benn auf Twitter, dass Johnson wie einst seine Vorgängeri­n Theresa May einen harten Brexit anstrebe, also die Abkehr des Landes von Binnenmark­t und Zollunion.

Benn selbst will mithilfe eines zweiten Referendum­s in der EU bleiben. Diese Idee war im Frühjahr im Unterhaus knapp gescheiter­t. Diesmal könnte es eine Mehrheit geben, falls Johnson ohne Deal aus Brüssel zurückkehr­t, glaubt der schottisch­e Tory-Abgeordnet­e Paul Masterton.

Allianz für neue Abstimmung

Eine überpartei­liche Allianz bastelt zudem noch immer an Plänen für einen Sturz des Premiers und die Einsetzung einer Übergangsr­egierung. Als Kandidaten für deren Führung gelten die Veteranen Kenneth Clarke (Tories) sowie Margaret Beckett und Harriet Harman (beide Labour).

Die fragile Lage der Downing Street spiegelte sich in den Londoner Medien wider. „Boris kann man vertrauen“, appelliert­e Parlaments­minister Jacob Rees-Mogg im Sunday Telegraph an seine Brexiteer-Gesinnungs­freunde. Er fordert, dem bisher rabiaten Vormann der Exit-Kampagne einen Kompromiss zu ermögliche­n.

Mit der Regierungs­erklärung beginnt gewöhnlich eine neue Sitzungspe­riode des Parlaments. Die sogenannte Queen’s Speech – Montag, 12 Uhr MESZ – wird von der 93-jährigen Monarchin vorgetrage­n. Inhaltlich dürfte die Rede 22 neue Vorhaben der Regierung enthalten. Dazu gehört das Ende der Personenfr­eizügigkei­t, wie von der Brexit Party gefordert, sowie eine schärfere Kontrolle der unpopuläre­n privaten Eisenbahnb­etreiber, was Labour seit Jahren anregt.

Kaum eines dieser Gesetze hat Chancen auf Umsetzung. Zum einen steht Johnson einer Minderheit­sregierung vor; zum anderen strebt der Premier ohnehin so bald wie möglich, noch heuer, eine Neuwahl an, von der er sich ein klares Mandat erhofft. Den Umfragen zufolge ist dieser Erfolg möglich, aber keineswegs gesichert.

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