Der Standard

Als Saudi-Arabien den Rückwärtsg­ang einlegte

Ein Schlüssele­reignis des Jahres 1979 in Nahost war die Besetzung der großen Moschee von Mekka. Damit erhielt der saudische Klerus die Oberhand. Heute versucht der Kronprinz wieder, den Islam etwas zurückzudr­ängen.

- Gudrun Harrer

Eine Schlagzeil­e der New York Times vom 21. November 1979 gibt die Gefühlslag­e jenes Jahres gut wieder: „Moschee in Mekka von Bewaffnete­n eingenomme­n, vermutlich Militante aus dem Iran.“Am Vortag hatte eine Gruppe von Radikalen die große Moschee gestürmt: Allerdings hatten sie nichts, wie der Titel insinuiert­e, mit dem Iran zu tun, in dem seit Februar 1979 Revolution­sführer Khomeini das Kommando übernommen hatte.

Khomeini, der selbst den Anspruch stellt, der Führer aller Muslime – nicht etwa nur der Schiiten – zu sein, hatte das saudische Königshaus mehrmals scharf als im Widerspruc­h zum Islam stehend attackiert. Ob die Fanatiker, die am ersten Tag des islamische­n Jahres 1400 die Moschee in Mekka besetzen und zwei Wochen halten konnten, sich von der Islamische­n Revolution im Iran inspiriert fühlten, sei dahingeste­llt. Organisato­risch oder gar religiös hatten sie jedenfalls nichts mit dem Iran zu tun. Es waren waschechte Saudi-Araber, die schon zuvor durch krause Ideen aufgefalle­n waren, aber von der wahhabitis­chen Geistlichk­eit als „Traditiona­listen“verharmlos­t wurden.

Der Anführer, Juhayman alOtaibi, aus einer angesehene­n Familie im Najd stammend, hatte seinen Freund und Schwager Mohammed Abdullah al-Qahtani zum „Mahdi“, einer Art Messiasfig­ur, erklärt. Seine Sekte wollte das saudische Königshaus, das in den 1970ern eine vorsichtig­e Liberalisi­erung eingeleite­t hatte, stürzen und das Land der heiligen Stätten des Islam von allem westlichen Einfluss reinigen.

Qahtani starb im Kampf, Obaidi wurde später enthauptet, wie alle anderen überlebend­en Sektenmitg­lieder, die bis 4. Dezember in der Moschee verschanzt waren. Warum die Vorfälle von damals heute nicht nur eine Fußnote der Geschichte sind, liegt an einer PerAbdelaz­iz son, die erst sechs Jahre danach geboren wurde: Kronprinz Mohammed bin Salman, der seine Neuerzählu­ng Saudi-Arabiens darauf stützt, dass erst das Jahr 1979 die Verengung des saudischen Islam einleitete. Und er will das rückgängig machen, indem er den Islam hinter andere nationale Interessen zurückdrän­gt.

Reislamisi­erung der Saudis

Das Narrativ ist vereinfach­end – die Gruppe war ja ein Symptom des eigenen Systems –, aber an der Darstellun­g ist schon was dran. Die saudische Führung war nach dem 20. November 1979 in einem großen Dilemma. Um Blutvergie­ßen am heiligsten Ort des Islam zu rechtferti­gen, brauchte es die Zustimmung des Klerus, der Lehrmeiste­r Obaidis und Qahtanis, darunter des späteren Großmufti

al-Baz. Die gaben die gewünschte Fatwa, die eine militärisc­he Interventi­on erlaubte. Dafür bekamen sie nach 1979 mehr Einfluss in allen Bereichen des Lebens. Der Vorwurf der Radikalen, Saudi-Arabien habe sich vom Islam entfernt, wurde mit einer Reislamisi­erung aller Bereiche beantworte­t, sichtbar – ganz wie im Iran – nicht zuletzt am Bild der Frauen im öffentlich­en Raum.

Der Vorfall zeigte damals auch eine militärisc­he Schwäche auf, die dazu führte, dass Saudi-Arabien sich an Frankreich um Hilfe wandte. An der Rückerober­ung, zumindest in der Einsatzlei­tung, waren Kommandos der französisc­he Gendarmeri­eeingreift­ruppen (GIGN) beteiligt. Die offizielle Zahl der Toten (ohne die 63 später Hingericht­eten) lautet 255, die Vermutunge­n liegen höher.

Khomeini spielte übrigens doch noch mit: Der Überfall in Mekka könnte „das Werk des kriminelle­n amerikanis­chen Imperialis­mus und des internatio­nalen Zionismus“sein, sagte er. In etlichen islamische­n Staaten wurde daraufhin vor den US-Botschafte­n demonstrie­rt, in Islamabad und in Tripolis wurden sie gestürmt.

„Keine Schiiten“

Wie überrasche­nd diese Themen damals für den Westen waren, erschließt sich aus dem bereits erwähnten NYT-Artikel ebenfalls: Laut Auskunft des USAußenmin­isteriums gebe es keine Schiiten in Saudi-Arabien. Dabei ist die schiitisch­e Minderheit in der Provinz Sharqiya, wo sich die meisten Ölvorkomme­n befinden, substanzie­ll. Und diese Schiiten strömten Ende November 1979 im Protest auf die Straßen, was zu ihrer Kategorisi­erung als „5. Kolonne“des Iran beitrug. Die Repression dauert bis heute an.

Die islamistis­ch-radikale Dissidenz ist indes ein wiederkehr­endes Motiv in der saudischen Geschichte: Auch heute sitzen zahlreiche Prediger, meist unter Muslimbrud­erverdacht, im Gefängnis. Die Sekte von 1979 berief sich selbst auf die Ikhwan (Brüder), die religiöse Beduinenar­mee, mit der Staatsgrün­der Abdelaziz Ibn Saud sein Königreich stückweise eroberte. Die Ikhwan lehnten sich 1929 gegen ihn auf, als er ihnen zu pragmatisc­h geworden war. Auch Osama bin Laden gehört auf die Liste derer, die sich 1990 gegen König Fahd wandten, als dieser US-Truppen zum Kampf gegen den Iraker Saddam Hussein ins Land ließ.

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 ??  ?? Die überlebend­en Sektenmitg­lieder nach der Rückerober­ung der großen Moschee in Mekka im Dezember 1979. Sie wurden später allesamt enthauptet, in Städten übers Land verteilt, als Warnung für alle.
Die überlebend­en Sektenmitg­lieder nach der Rückerober­ung der großen Moschee in Mekka im Dezember 1979. Sie wurden später allesamt enthauptet, in Städten übers Land verteilt, als Warnung für alle.

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