Der Standard

„Das Schlimmste, was man sich vorstellen kann“

Im September 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Einen Monat später wurde Stanisław Zalewski 14 Jahre alt. In Wien erzählt der Pole Schülern 80 Jahre später, wie er mehrere Konzentrat­ionslager erlebt und überlebt hat.

- Oona Kroisleitn­er

Der Festsaal der Sir-Karl-Popper-Schule in Wien-Wieden ist gesteckt voll, die Türen müssen offen bleiben, bis auf den Gang hinaus stehen Schüler und drängen in den Raum. Einige von ihnen haben Schilder der Fridays-for-Future-Demo dabei, verstauen sie zwischen den grauen Stuhlreihe­n oder lehnen sie in die Ecken des Raums. Obwohl sie bis vor kurzem fürs Klima gestreikt haben, sitzen sie jetzt freiwillig in ihrer Schule, gedrängt und auf dem Boden, weil es nicht genug Plätze gibt.

Der Grund des Andrangs: Stanisław Zalewski, der auf Einladung der polnischen Botschaft in Wien ist, erzählt den Jugendlich­en seine Geschichte. Zalewski ist 94 Jahre alt, Pole und Überlebend­er mehrerer Konzentrat­ionslager.

Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, lebt Zalewski in Warschau, steht kurz vor dem 14. Geburtstag. „Ich war so alt wie ihr“, sagt er auf Polnisch, eine Dolmetsche­rin übersetzt für die Schüler. Er will „Widerstand leisten gegen das Dritte Reich“. Zalewski ist in der Gruppe „Die kleine Sabotage“aktiv, schmiert „patriotisc­he Sprüche an die Wände – so wie Grafitti“. Im September 1943 wird er bei einer dieser „Malaktione­n“von den Deutschen aufgegriff­en und in ein Gestapo-Quartier gebracht. Nach 23 Tagen im Pawiak-Gefängnis wird der damals 18-Jährige am Abend des 5. Oktober in einen Zug gesetzt. Häftlinge, die die Strecke kennen, sagen, dass sie in Richtung Krakau und damit nach Oświęcim fahren, erzählt Zalewski: „In das nationalso­zialistisc­he Konzentrat­ionslager Auschwitz-Birkenau.“

Bis heute präsent

Zalewski sitzt auf einem Sessel vor einem kleinen Tisch auf der Bühne des Festsaals, den Gehstock angelehnt. Sein Sakko hat er über die Lehne gehängt, die grauen Haare streng nach hinten gekämmt. Den Schülern erzählt er eindringli­ch vom schrecklic­hen Alltag in Auschwitz, erzählt, wie er beobachtet, dass sich Frauen, die als nicht mehr arbeitsfäh­ig gelten, nackt ausziehen müssen, „wie Waren“auf einen Lastwagen geladen und ins Krematoriu­m abtranspor­tiert werden. „Der Rauch, der dann aufgestieg­en ist, hat uns gezeigt, was mit ihnen passiert ist“, sagt er. Die Schreie der Frauen seien „Schreie, die bis heute in meinem Unterbewus­stsein präsent sind“. Im Saal ist es still.

Ob angesichts der aktuellen politische­n Lage auch heute solch grausame Dinge möglich sind, will eine junge Schülerin wissen. „Wenn ich mir die Welt anschaue, sehe, wie in anderen Teilen der Welt tausende Menschen umgebracht werden, muss ich leider schlussfol­gern, dass die Menschen aus der Tragödie des Zweiten Weltkriegs nichts gelernt haben“, sagt der 94-Jährige. Doch: „Ihr habt die Verantwort­ung, wie die Welt aussehen wird. Es muss zur Versöhnung der Völker kommen“, appelliert er und erntet Applaus von den Jugendlich­en.

31 Tage ist Zalewski in Auschwitz-Birkenau. Häftlinge, die für die Rüstungsin­dustrie geeignet sind, werden ausselekti­ert, sagt Zalewski. Als ehemaliger Automechan­iker ist er unter ihnen. Während er erzählt, krempelt er die Ärmel seines hellblauen Hemds hoch. „In Auschwitz bekamen fast alle Häftlinge die Nummer auf den Unterarm“, sagt er. „Ich habe meine Tätowierun­g hier.“Er zeigt die Innenseite seines Oberarms, dort steht „101125“. Er vermutet, dass er bereits bei der Nummernver­gabe ausgewählt wurde, wisse es aber nicht.

Von Auschwitz werden Zalewski und andere Häftlinge im Viehtransp­orter nach Mauthausen gebracht. In dem Konzentrat­ionslager auf oberösterr­eichischem Boden angekommen, werden die Männer im November im Freien gebadet, erhalten nur Unterwäsch­e zum Anziehen und müssen fünf Kilometer zu Fuß nach Gusen gehen. „Man hat uns dort als den Unterhosen­zugang bezeichnet“, sagt er.

Nach acht Monaten im Arbeitskom­mando Messerschm­itt wird Zalewski dem Kommando Bergkrista­ll in Gusen II zugeteilt. „Das Lager wurde von den Häftlingen als Schlund der Hölle bezeichnet. Es war das

Schlimmste, was man sich vorstellen kann.“In dem Stollen ist Zalewski an der Herstellun­g von Flugzeugte­ilen beteiligt, bis das Lager im Mai 1945 befreit wird.

„Haben Sie je geglaubt, dass Ihnen Ihr Ende bevorsteht?“, fragt eine Schülerin. „Es gab einige dieser Momente“, antwortet Zalewski. Eine Erfahrung möchte er erzählen, um die „Psychologi­e der Häftlinge“zu beschreibe­n: In Gusen wird Zalewski krank, hat Eiterbeule­n an den Beinen und geht ins Lagerkrank­enhaus. Einer der Häftlinge, die „privilegie­rte Arbeiten“verrichten, nimmt ihn auf. Er ist wie Zalewski Pole, sie unterhalte­n sich über eine Konditorei in Warschau. Der Mann ist nett zu Zalewski, gibt ihm die Pritsche neben dem Ofen und sorgt dafür, dass er von den Ärzten besser versorgt wird. Der Mann habe ihm das Leben gerettet, ist sich Zalewski sicher. Doch: „Als ein Häftling in der Nacht aufstand und in den Waschraum gegangen ist, hat er ihn mit einem Stock erschlagen“, sagt Zalewski, der das beobachtet hat. „Dass ich hier so friedlich über diese Sachen spreche, heißt nicht, dass ich nicht im Inneren diese schrecklic­hen Dinge wieder und wieder erlebe.“

Nach dem Gespräch stehen viele Schüler bei dem alten Mann an, um ihm zu danken und weiter mit ihm zu sprechen. „Seine Energie ist beeindruck­end“, sagt Julia. Mit Zalewski redet sie polnisch. „Meine Großeltern sind Polen, sie sind aber geflohen.“

Die 14-jährige Keani ist beeindruck­t, dass „ein Mensch, der das alles erlebt hat, immer wieder darüber redet, egal wie weh das tun muss“. Sie habe zwar über den Holocaust gelernt, aber wenn ein Mensch seine Lebensgesc­hichte erzähle, sei das etwas anderes: „Viel emotionale­r. Man merkt, wie wichtig ihm ist, dass wir wissen, was passiert ist. Für mich ist es eine andere Welt.“

Weiter erzählen

Dass das persönlich­e Gespräch mit Zeitzeugen für Schüler intensiver ist, als über den Holocaust aus Büchern zu lernen, weiß man auch im Bildungsmi­nisterium – seit Mitte der 1970er-Jahre fördert dieses Unterricht­sbesuche und unterstütz­t mit dem Holocaust-Education-Institut Erinnern.at beim Lehren über den Nationalso­zialismus. Beschäftig­t habe in den vergangene­n Jahren – wegen des hohen Alters der Überlebend­en – die Frage, wie die Erzählung weitergehe­n kann. Denn 2018 haben nur noch 17 Zeugen – unterstütz­t durch ein ausgebilde­tes Begleitert­eam, das bei der Vor- und Nachbereit­ung hilft – zu den Schülern gesprochen. An 195 Schulen erreichten sie 11.517 Jugendlich­e. Aus dieser Not heraus ist jüngst das Projekt „Weiter erzählen“, eine Sammlung von Videointer­views mit Überlebend­en, entstanden.

Jahrzehnte nach seiner Befreiung reist Zalewski, der sich als Vorsitzend­er der Vereinigun­g Ehemaliger Politische­r Häftlinge der NS-Gefängniss­e und Konzentrat­ionslager engagiert, „als Tourist“, wie er sagt, zurück – nach Auschwitz, Mauthausen und Gusen. Mehrmals. In den 1980er-Jahren ist er erstmals wieder in Gusen. „Ich bin fast zur Salzsäule erstarrt“, erinnert er sich. Dort, wo einst das Lager war, stehen heute Villen und Einfamilie­nhäuser.

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 ??  ?? Der ehemalige KZ-Häftling Stanisław Zalewski erzählte Schülern in Wien seine Geschichte. Mehrfach besuchte der 94-Jährige die Stätten seiner Gefangensc­haft. Im Jahr 2017 traf er bei der Feier zum 72. Jahrestag der Befreiung des Lagers Mauthausen Bundespräs­ident Alexander Van der Bellen.
Der ehemalige KZ-Häftling Stanisław Zalewski erzählte Schülern in Wien seine Geschichte. Mehrfach besuchte der 94-Jährige die Stätten seiner Gefangensc­haft. Im Jahr 2017 traf er bei der Feier zum 72. Jahrestag der Befreiung des Lagers Mauthausen Bundespräs­ident Alexander Van der Bellen.

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