Der Standard

Die Albträume sind zurück: In „Doctor Sleeps Erwachen“hat Ewan McGregor die Gabe des Shining.

Coldplay fassen sich auf „Everyday Life“ein Herz und bewegen sich aus ihrer Komfortzon­e. Ausgerechn­et im Kirchencho­r finden sie sich wieder.

- Karl Fluch

Das Blau bricht sich seinen Weg durch die Wolken, die Wärme der Sonne fällt auf die Erde – Coldplay nehmen uns an der Hand und führen uns in die Kirche. Das erste Lied nach dem instrument­alen Intro heißt Church. Doch der Song erfüllt nur die Erwartunge­n, die ein Coldplay-Album fanseitig einzulösen hat: Er klingt nach Coldplay, nach U2 minus Predigtdie­nst. Vielleicht ist Wien daran mitschuldi­g. Immerhin zeigte sich die Band bei ihrem letzten Aufenthalt angetan von der Langen Nacht der Kirchen – womit sich Popstars am Abend halt zerstreuen, wenn Frau und Kinder fern sind.

Zwei Stopps weiter geht es tatsächlic­h ins Gotteshaus: Broken ist ein Gospel, bei dem Chris Martin den Call-Gesang übernimmt, während ein Chor den AntwortPar­t übernimmt. Es ist der vierte Song des heute erscheinen­den Albums Everyday Life, und bis dahin klingt jedes Lied anders als seine Vorgänger. Das bleibt so. Zwar streut die britische Band noch zwei, drei Pflichtübu­ngen ein, die den Formatradi­ohörer daran erinnern, dass er Coldplay hört, ansonsten muss man Martin und Co zugutehalt­en, dass sie sich was trauen.

Dass Mut auf dünnem Eis manchmal ins Wasser führt, nehmen sie dabei in Kauf und holen sich bei When I Need a Friend nasse Füße bis zum Hals. When I Need a Friend ist schon wieder ein Kirchenlie­d, heilig bis unters Dach. Dieses Mal aber kein lässig swingendes Gospel, stattdesse­n hebt ein hüftsteife­r Chor an, sodass man vorsorglic­h die Milch in Gips legt. Zumindest im Vatikan scheint damit ein Eintrag in den Charts sicher.

Everyday Life ist das achte Studioalbu­m von Coldplay. Schon der Titel verweist darauf, dass alles ein bisschen wie immer ist, selbst wenn es anders klingt. Die Briten gelten als Popstars von nebenan. Keine durchgekna­llten Drogenfres­ser, sondern solide Familienme­nschen, höflich, gewaschen, bloß mit einem etwas ungewöhnli­chen Beruf.

Mit Everday Life versuchen sie, etwas Farbe in ihren Alltag zu bringen. Anstatt, sagen wir, ein Dutzend Powerballa­den zum Thema „ich schmachte, also bin ich“zu singen, versucht die Band mehrere Facetten des sogenannte­n normalen Lebens abzubilden. Das übersetzt sie in eine stilistisc­he Vielfalt, die für Mainstream-Popstars gefährlich sein kein, weil sie ja zuerst Erwartungs­haltungen zu erfüllen hat. Anderersei­ts kann es gerade Vertretern der kommerziel­len Oberliga auch einmal egal sein, ob sie von einem Album 16 oder nur 15,5 Millionen Alben verkaufen, die Stadien sind bei ihren Konzerten sowieso auf allen Kontinente­n voll.

Immerhin formal mutig

Insofern ist Everyday Life zumindest formal ein mutiges Album. Inhaltlich thematisie­rt es wie üblich die schönen und nicht so schönen Dinge. Die Waffenkult­ur bekommt in Guns schablonen­hafte Kritik ab, Champion of the World ist eine Kraftballa­de zum Gähnen, Bani Adam könnte als die

Ballade pour Adeline von Coldplay in die Bandgeschi­chte eingehen. Chris Martin begibt sich hier auf die Spuren des Richard Clayderman. Man kann das als Mut deuten, in dem Sinn von keine Angst zu haben, im Schmalzfas­s abzusaufen, oder als die tranige Etüde sehen, die es am Ende ist.

Doch ein paar hübsche Titel hält das Werk parat: Etwa Cry Cry Cry, das mit einem Vintage-DooWop-Sound erfreut. All die verschiede­nen Ausrichtun­gen sind geprägt von der Gefühligke­it von Martins Gesang. Das ist der Klebstoff dieses Werks, das man sonst nur bedingt als gesamtheit­liches Album wahrnimmt. Zu unterschie­dlich fallen seine Einzelteil­e aus, selbst wenn diese durchaus sympathisc­h wirken. Nett halt. Also das Todesurtei­l jeder Kunst.

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 ??  ?? Diese vier Herrschaft­en bewerben sich für die Aufnahme in die Rock-’n’-Roll-Charts von Radio Vatikan: die Spielleute von Coldplay.
Diese vier Herrschaft­en bewerben sich für die Aufnahme in die Rock-’n’-Roll-Charts von Radio Vatikan: die Spielleute von Coldplay.

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