Der Standard

In unserer Hand

Welches Leben erwartet die Kinder von heute, wenn die Klimakrise ungebremst weitergeht? Eine neue Studie liefert eine äußerst alarmieren­de Prognose – und ein Rezept dafür, dass es nicht so weit kommt.

- Lisa Mayr

Irgendwann sind den Klimaforsc­hern die Farben für ihre Grafiken ausgegange­n. Rot für heiße Zonen und hohe Temperatur­en – das hat lange Zeit funktionie­rt. Das Rot wurde dunkler, wenn es wärmer wurde. Doch die Temperatur­en hielten sich nicht an die Regeln, sie stiegen weiter und weiter, in den letzten Jahren vielerorts sprunghaft, von Jahr zu Jahr wird es immer noch heißer. Wie zeigt man diese Veränderun­g? Wie veranschau­licht man die immer neuen Extreme? Die Forscher griffen zu Lilatönen, zu einer Art Braun. Jedes Zehntelgra­d bekam einen noch dunkleren Ton. Dann standen die vier Grad plus als Prognose im Raum.

Bei vier Grad plus wird es düster in den Grafiken, manchmal fast schwarz. Wir sehen das, und wir ahnen: Das wird ungemütlic­h, lebensfein­dlich, global dramatisch. Versiegte Brunnen, verdörrte Äcker, gekippte Ökosysteme, Millionen Menschen auf der Flucht. Massenster­ben. Vier Grad plus im Vergleich zum vorindustr­iellen Zeitalter sind aber keine unwahrsche­inliche Perspektiv­e. Sie sind das Ergebnis jenes Kurses, den die Welt derzeit fährt. Sie sind ein realistisc­hes Szenario, wenn der CO2-Ausstoß bleibt, wie er ist.

In diesem Fall wäre es im Jahr 2100 so weit mit den vier Grad plus. Das prognostiz­iert das renommiert­e Potsdam-Institut für Klimafolge­nforschung seit Jahren.

Das predigen auch unzählige andere Institute auf der ganzen Welt – seit Jahren. Doch die große Kursänderu­ng bleibt aus, das Zeitfenste­r beginnt sich zu schließen. Doch was bedeuten vier Grad plus? Welches Leben würden wir führen?

„Eine Vier-Grad-Welt ist nicht mehr versicherb­ar“, formuliert es der deutsche Versicheru­ngsverband in entwaffnen­der Klarheit. Die Überschwem­mungen, Stürme und Hagelunwet­ter wären dann so regelmäßig und heftig, dass keine private Versicheru­ng und kein Staat die Folgen auffangen könnten. Das mag die spezifisch­e Sicht einer Branche auf einen Teil des Problems sein. Aber es zeigt, womit auch in unseren Breiten zu rechnen wäre.

Wie Kinder leiden

Im Jahr 2100 ist ein Kind, das heute geboren wird, 71 Jahre alt. Schon in den Jahren und Jahrzehnte­n davor wird die Klimakrise sein Leben massiv geprägt haben. Das beschreibt eine neue Studie von 120 Expertinne­n und Experten im Fachjourna­l Lancet sehr anschaulic­h. „Kinder leiden am meisten unter dem Klimawande­l – gemeinsam mit alten Menschen und chronisch Kranken. Denn Schäden an der kindlichen Gesundheit wirken ein Leben lang“, so Nick Watts, der den „Lancet Countdown on Health and Climate Change“leitet. Die ersten Jahre eines Menschen sind prägend für das, was in seinem weiteren Leben passiert, zumindest in gesundheit­licher Hinsicht. Zu wenig oder nährstoffa­rme Nahrung, verseuchte­s Wasser, Kontakt mit Chemikalie­n – das schwächt Kinder nachhaltig und kann ihre Entwicklun­g verzögern. Es hinterläss­t Spuren im Körper der Mädchen und Buben.

Auch Hitze und Krankheits­erreger sind besonders für Kinder gefährlich, weil deren Immunsyste­m noch nicht sehr stark ist. Babys können ihre Körpertemp­eratur lange Zeit nicht selbst regulieren, ihr Kreislauf ist der Hitze ausgeliefe­rt. Im schlimmste­n Fall kann das zum Hitzschlag führen. „Auch Erkrankung­en wie Durchfall oder Denguefieb­er setzen Kindern stark zu“, heißt es im LancetBeri­cht, an dem Forscher aus vielen Bereichen der Wissenscha­ft und 35 Institutio­nen wie WHO und Weltbank mitgewirkt haben. Durchfall und Denguefieb­er finden in der Klimakrise ideale Bedingunge­n, weil Wasser öfter verunreini­gt ist und sich Erreger gut vermehren. Denguemück­en hatten es noch nie so gut wie in den letzten zehn Jahren. Und dem Choleraerr­eger kann nichts Besseres passieren als die Klimakrise.

Noch nie wurden in Westeuropa höhere Temperatur­en gemessen als in der vergangene­n Dekade. Durch die Wärme blühen Pflanzen länger und häufiger, allergene Arten breiten sich aus, es segeln mehr Pollen durch die Luft. Das fördert Allergien.

Anderswo, in Sibirien, Australien, Brasilien und den USA, lodern die Flammen: Das wiederum fördert Asthma, Atemwegspr­obleme und Herz-Kreislauf-Erkrankung­en auch bei Kindern. „Wenn die Länder der Welt nicht sofort aktiv werden, wird der Klimawande­l die Gesundheit einer ganzen Generation prägen“, heißt es im Bericht. Jetzt entscheide sich, ob es so kommt oder nicht.

Win-win-Situation

Die Forscher wollen aber nicht Angst und Schrecken verbreiten, sondern aufrütteln. Es gehe darum, den Weg in eine gute Zukunft für alle zu zeichnen. Der führe unweigerli­ch über radikalen Klimaschut­z. „Wir wollen zeigen, welche Chancen im Wandel zur emissionsa­rmen Welt liegen.“Die Transition verändere die Gesellscha­ft in vielen Bereichen positiv. Wer Kohlekraft­werke abschaltet, Städte fahrradfre­undlich macht und das Auto zurückdrän­gt, schützt das Klima. Er oder sie sorgt aber auch dafür, dass die Luft besser ist, die Menschen sich mehr bewegen und weniger von ihnen im Straßenver­kehr sterben.

Hier setzt auch Jens Wolling an, Professor für Empirische Medienfors­chung an der Technische­n Universitä­t Ilmenau: „Wir brauchen einen Entwurf von einem Leben, das besser ist als das Leben heute.“Eine regionaler­e, kleinteili­ge und weniger konsumorie­ntierte Lebensweis­e schont Ressourcen,

bringt aber auch mehr Zeit für Freunde und Familie, weniger Stress im Beruf, gesundes Essen, umweltscho­nende Technik. „Das Ziel, den Klimawande­l zu verhindern, wird auf Dauer nicht ausreichen“, sagt Wolling. „Man muss auch wissen, wieso.“

Das Pariser Klimaabkom­men sieht vor, die Erderwärmu­ng auf 1,5 Grad zu begrenzen. Das gelingt nur, wenn die Länder ihre Klimaversp­rechen wahrmachen. Was hieße es für das heute geborene Kind, wenn das Abkommen hält? Es wäre sechs Jahre alt, wenn England aus der Kohle aussteigt. Mit 21 Jahren würde es erleben, wie in Frankreich die letzten Benziner und Diesel von der Straße verschwind­en. Alle heute geborenen Kinder wären 31 Jahre, wenn nur mehr so viel CO2 produziert wird, wie die Natur verkraften und technische Mittel tilgen können.

Damit das gelingt, braucht es vier Dinge, notieren die Forscher in Lancet: Alle Länder müssen rasch aus dem Kohlestrom aussteigen. Reiche Staaten müssen arme Länder jährlich mit 100 Milliarden Dollar unterstütz­en, damit diese zum Klimaschut­z finden. Der öffentlich­e Verkehr und die Infrastruk­tur für Fußgänger und Radfahrer müssen massiv ausgebaut werden. Und: Das Gesundheit­ssystem braucht viel Geld, damit Menschen, die unter der Klimakrise leiden, geholfen werden kann. Und damit die Versorgung neuen Herausford­erungen standhält.

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