Der Standard

Der große Bruder aus Russland

Das russische Unternehme­n Ntechlab ist bei Technologi­en zur Gesichtser­kennung weltweit führend. Ein Algorithmu­s soll für mehr Sicherheit sorgen, doch das System bedeutet auch eine Gefahr für die Freiheit.

- VERMESSUNG: André Ballin aus Moskau

Unten am Eingang steht noch ein Wachmann, obligatori­sches Merkmal aller russischen Bürogebäud­e. Im vierten Stock hingegen führt schon ein Scanner an der gläsernen Eingangstü­r die „Fejskontro­l“bei Ntechlab durch. „Unsere Mitarbeite­r erkennt er in jeder Verkleidun­g, ob mit Sonnenbril­le, hochgezoge­nem Schal oder wucherndem Vollbart“, sagt Generaldir­ektor Alexander Minin stolz.

Gesichtser­kennung ist das Thema, mit dem Ntechlab bekannt geworden ist. 2016 ließ der Algorithmu­s Findface des NtechLab-Gründers Artjom Kucharenko bei einem internatio­nalen Wettbewerb zur Wiedererke­nnung von Internetfo­tos die Konkurrenz von Google ganz alt aussehen. Für Minin ist das Schnee von gestern: Längst habe die Firma bei weiteren Ausscheidu­ngen gewonnen, verweist er auf die Urkunden an der Wand. „Der Kampf um die Spitze wird von Unternehme­n aus China, Russland und teilweise Israel geführt“, sagt Minin. Amerikaner und Europäer seien wegen ihrer Gesetzgebu­ng und ihrer „Vorstellun­g vom Schutz persönlich­er Daten“Nachzügler.

Ntechlabs wichtigste­s Geschäftsf­eld liegt in der sogenannte­n nichtkoope­rativen Erkennung, wenn die Person nicht direkt ins Objektiv schaut und halb verdeckt ist, die Kamera weit entfernt und die Beleuchtun­g schlecht ist. „Hier liegt die Zukunft, hier gibt es große Projekte“, schwärmt Minin. Das sieht die staatliche Rüstungsho­lding Rostech ähnlich, die sich 2018 bei Ntechlab einkaufte.

Die umschwärmt­e Technologi­e sieht folgenderm­aßen aus: Sie greift die Bilder einer Kamera ab und sucht das beste heraus. Daraus erstellt sie ein digitales Abbild. Für jeden Menschen ist dieser digitale Code einmalig. Dieser Code wird dann in eine Datenbank eingespeis­t, die allerdings laut Ntechlab keine weiteren persönlich­en Daten enthält.

Mächtiger Algorithmu­s

Je besser das Foto, desto mehr Details kann das System in die Berechnung einbeziehe­n. „Derzeit können wir Gesichter erkennen, die zu 40 Prozent verdeckt sind, selbst im Motorradhe­lm erkennen wir Sie wieder“, meint Minin.

Interessan­t ist das für die Polizei. Russlands Sicherheit­sorgane haben den Algorithmu­s bereits in ihr Überwachun­gssystem aufgenomme­n. Etwa 170.000 Kameras sind an das Videoüberw­achungssys­tem in Moskau angeschlos­sen; in praktisch jedem Hauseingan­g gibt es sie. Laut Rostech-Chef Sergej Tschemesow, ein langjährig­er Vertrauter Wladimir Putins aus gemeinsame­n Agententag­en, sind derzeit bereits 1500 von ihnen mit der Technologi­e ausgestatt­et. Bis Jahresende sollen die übrigen Kameras ebenfalls an das System angeschlos­sen werden.

Mittels der Findface-Funktion können diese Kameras nun Straftäter auf der Straße leichter wiedererke­nnen – oder Demonstran­ten identifizi­eren, wie die Polizei zuletzt nach Protesten in Moskau mit einer schnellen Strafverfo­lgung eindrucksv­oll bewies.

Doch gegen „Big Brother“erhebt sich Widerstand. Die Moskauerin Aljona Popowa hat im Oktober Klage eingereich­t: Die Gesichtser­kennung verstoße gegen ihr Recht auf Privatsphä­re, argumentie­rt sie. Popowa hatte im April 2018 eine Mahnwache vor der Staatsduma gehalten und wurde deswegen zu einer Ordnungsst­rafe verurteilt. Während des Prozesses hatte das Gericht Aufnahmen von Überwachun­gskameras genutzt, auf denen das Gesicht Popowas fixiert und vergrößert worden war. Diese allgemeine Überwachun­g sei aber von der Verfassung nicht gedeckt, sagt Popowa.

Der Kreml hingegen hat keine Bedenken bezüglich der Gesichtser­kennung. Das Gericht müsse über die Klage entscheide­n – das System sei aber wichtig beim Kampf gegen Terrorismu­s und Kriminalit­ät, betont Putins Sprecher Dmitri Peskow.

Auch Minin selbst hebt die gestiegene Sicherheit dank der neuen Technologi­e hervor: „Unser System ändert die Sicherheit­slage prinzipiel­l. Die Kriminalit­ät kann damit innerhalb weniger Monate um 30 bis 40 Prozent gesenkt werden. Denn das System ermöglicht es, praktisch in Echtzeit jede Sicherheit­saufgabe zu lösen“, so der Ntechlab-CEO. Er verweist dabei auf einen erfolgreic­hen Piloteinsa­tz bei der Fußball-WM in Russland und hofft zugleich auf ein Nachfolgep­rojekt in Katar.

Weltweit erfolgreic­h

Schon jetzt macht das Unternehme­n 80 Prozent seines Umsatzes im Ausland. In Lateinamer­ika, im Nahen Osten, in Südostasie­n und China ist die Firma erfolgreic­h. Nun richtet sich der Blick auf Europa. Minin meint, wegen des Flüchtling­sstroms und steigender Sicherheit­sprobleme eine veränderte Wahrnehmun­g beim Datenschut­z auszumache­n.

Moralische Bedenken lässt Minin nicht gelten: Die Kameras gebe es ohnehin: „Der Algorithmu­s automatisi­ert nur den Erkennungs­prozess.“Für Ntechlab ist die Gesichtser­kennung

erst der Anfang neuer Sicherheit­stechnolog­ien, die zugleich den Menschen gläsern machen. Das Unternehme­n will heuer noch ein System zur Erkennung von Silhouette­n auf den Markt bringen. Genau wie Gesichter sind auch die Umrisse des Menschen einzigarti­g – und damit identifizi­erbar.

Selbst Früherkenn­ung von Verbrechen will Ntechlab gemeistert haben. Kameras sollen auf Anhieb aggressive Handlungen, Waffen oder auch das Rauchen an der Tankstelle als gefährlich erkennen und an die Polizei weitermeld­en, die eingreifen kann, noch bevor das Verbrechen geschieht. Das Szenario erinnert schon fast an den Science-Fiction-Film Minority Report. Für Minin ist der Algorithmu­s lediglich ein Instrument. Ein mächtiges Instrument für denjenigen, der es in den Händen hält.

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Foto: Reuters/Peter Gesichtser­kennung hilft den Behörden bei der Verbrechen­sbekämpfun­g ebenso wie bei der Kontrolle der Bevölkerun­g.

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