Der Standard

In den Freitod begleitet

In der Schweiz ist es unter bestimmten Bedingunge­n legal, sich selbst das Leben zu nehmen. Der Verein Exit organisier­t solche Freitode. Wie es ist, einen schwerkran­ken Freund als Zeuge in den Tod zu begleiten – ein Erlebnisbe­richt.

- Karin Pollack

Ich hatte einen Freund, und es fühlt sich so an, als hätte ich ihn noch. Wir kannten uns lange, seit über 30 Jahren. Mochten uns. Aber es gab immer wieder auch längere Pausen. Er meldete sich nicht, ich rief nicht an. So war die Freundscha­ft, aber wir haben uns nie aus den Augen verloren. Ich lernte Max während des Studiums in Zürich kennen. Er war schnell im Kopf, sensibel, talentiert. Das gefiel mir. Gleichzeit­ig war er auch besserwiss­erisch, hatte hohe Ansprüche an sich und die anderen. Wir debattiert­en gerne, eine Tradition, die im Studium begann.

Müsste ich Max beschreibe­n, würde ich ihn wohl als schwer zugänglich bezeichnen, als einsamen Wolf vielleicht, der den Menschen gegenüber eher misstrauis­ch war. Er hatte nie sehr lange Liebesbezi­ehungen, immer Ärger mit Arbeitgebe­rn, lebte asketisch, trug stets dieselbe Kluft: schwarze Jeans und weiße Hemden. Sein Markenzeic­hen: der Drum-Tabak. Zigaretten drehen und rauchen war für ihn wohl mit einer Vorstellun­g des Sich-lebendig-Fühlens verbunden. Max, ein schwierige­r, widersprüc­hlicher Freund.

Im Sommer vor drei Jahren fiel mir auf, dass er sich körperlich verändert hatte. Beim Abendessen hatte er wenig Appetit. Er hustete stark, und als wir uns verabschie­deten, meinte er, er würde vielleicht einmal zum Arzt gehen. Selbstfürs­orge, das war leider nicht sein Ding. Kurz vor Weihnachte­n wurde bei ihm Lungenkreb­s diagnostiz­iert. Stark fortgeschr­itten, sagten die Ärzte. Max überlegte, ob er sich überhaupt einer OP und Chemothera­pie unterziehe­n sollte.

Schwierige Zeiten

Aber dann, ja, doch, er hatte berufliche Pläne, wollte weiterlebe­n. Vielleicht ahnte ich es zu Beginn eher, als ich es wusste: Ich wurde für Max eine wichtige Bezugspers­on in solchen Überlegung­en. Ich denke, dass ich das auch sein wollte. Nähe ist immer auch eine Chance.

Ich sah Max fortan regelmäßig. Die Behandlung sollte ihn schwer mitnehmen. Es bürgerte sich ein, dass ich ihn einmal pro Woche zum Mittagesse­n besuchte. Immer mittwochs von 12 bis 16 Uhr. Wir debattiert­en wie eh und je. Max verwarf die Möglichkei­t des Sterbens, er würde wieder gesund werden, nahm er sich vor, er wolle leben. Worunter er während der vielen Chemos am meisten litt, war der Verlust seines Geschmacks­und Geruchssin­ns. Das, was er roch und wie er es schmeckte, stimmte nicht mehr überein. Die einzige Ausnahme: Thai-Curry mit Huhn, das ich ihm fortan aus immer demselben Restaurant in Zürich mitbrachte. Er wollte es bezahlen, ich wollte das nicht, und wir brauchten ein paar Mittwoche, bis er dieses Geschenk von mir annehmen konnte. Es waren solch kleine Dinge, die uns stärker als in allen Jahren zuvor zusammenwa­chsen ließen. Wir teilten die Traurigkei­t über die Erkrankung, die Wut. Er, der immer hagerer wurde, entwickelt­e eine mystische Sicherheit, dass alles wieder gut werden würde.

Im Frühsommer 2018 wurden Metastasen in Leber und Gehirn entdeckt. Max machte eine Patientenv­erfügung. Wir sprachen darüber, was zu tun wäre, wenn dieser oder jener körperlich­e Zustand eintritt. Er sehnte sich danach, noch einmal das Meer zu sehen. Wir redeten, wohin wir fahren würden. Aber immer kamen eine Therapie, ein Infekt oder Schmerzen dazwischen. Ein Wochenende auf dem Land ist sich ausgegange­n. Das war berührend und schön, ich glaube auch für ihn.

Angst vor Kontrollve­rlust

Eines Tages, es war im Winter 2019, versagte seine rechte Hand. Die Metastasen im Gehirn verursacht­en Lähmungen. Darüber ist er erschrocke­n. Ich glaube, weil er merkte, dass ihm die Kontrolle über seinen Körper entglitt. Wir kamen auf Exit zu sprechen, jenen Verein, dem in den letzten Jahren auch einige Leute, die wir kannten, beigetrete­n waren. Zu Beginn ging es um formelle Fragen: dass man dort Mitglied werden müsse, dass man eine ärztliche Bescheinig­ung für die Unheilbark­eit der Erkrankung braucht und dass das Rezept für die tödliche Dosis Natrium-Pentobarbi­tal immer nur drei Monate gültig ist. Als Freund konnte ich nicht mehr tun, als für ihn da zu sein. Ich bot Max an, ihn beim Sterben mit Exit zu begleiten, wenn er sich dafür entscheide­n und sich mich als Zeugen wünschen würde. Er nahm mein Angebot dankbar an. Dann weinten wir beide lange. Zugegeben: Ich hatte Angst, was da auf mich zukommen würde, aber trotzdem fühlte sich mein Angebot richtig an. Und gut.

Max wurde Mitglied, hatte Gespräche mit den Leuten von Exit. Er erzählte wenig darüber. Ich glaube, dass er nicht lebensmüde war, aber er hat sich mehr als alles andere vor Abhängigke­iten gefürchtet, vor dem Verlust der Selbstbest­immtheit. Das Rezept für die tödliche Dosis Beruhigung­smittel war eine Art Pfand für diese Selbstbest­immtheit, das er einstweile­n auch nicht einlöste. Denn die Behandlung ging ja weiter. Er schimpfte oft über die Ärzte, auch als eine Immunthera­pie als letzte Chance nicht wirkte. Nie war ihm klar, ob sie, wenn sie mit ihm sprachen, auch wirklich ihn als Person meinten. Ich hörte seine Verzweiflu­ng – war überforder­t.

Dann hatte er einen epileptisc­hen Anfall. Wer sich entscheide­t, mithilfe von Exit seinem Leben ein Ende zu setzen, muss zurechnung­sfähig sein und sich die Medikament­e selbst verabreich­en können. Es gibt zwei Optionen: das Pulver in Wasser aufzulösen und zu schlucken oder die tödliche Dosis als Infusion. Dabei muss man es jedoch noch schaffen, die Tablette selbst einzunehme­n, den Infusionsh­ahn selbst aufzudrehe­n. Max wollte Letzteres.

Es war Ostern 2019. Max war austherapi­ert, das hatte er nun akzeptiert, er hatte Metastasen im Gehirn, die ihm weitere unberechen­bare körperlich­e Ereignisse bescheren würden. Er wurde schwächer, wollte immer noch weiterlebe­n, doch erkannte er die Perspektiv­losigkeit. Ein assistiert­er Suizid würde eine Art Abkürzung in den Tod sein, so sah er das.

Als er mich eines Tages anrief und mir sagte: ‚In zwei Wochen musst du kommen‘, war es trotzdem ein Schock. Wir hatten viel geredet, aber es dann auch zu tun war etwas anderes. Zwischen Fantasie und Handlung liegt eine riesige Kluft. Sehr bald würde auch meine Zeit mit Max zu Ende sein. Das wollte ich nicht wahrhaben, konnte es mir nicht vorstellen. Ich brauche noch Zeit, dachte ich.

Und dann wurde der Termin auch noch nach vorn verschoben. In zwei Tagen, an einem Sonntag um 16.30 Uhr, würde es stattfinde­n, sagte er am Telefon und verabschie­dete sich mit ‚Bis dann!‘. Es war Freitagmor­gen. Das kam mir zu schnell. Max hatte meine Gefühle nicht mehr mitdenken können.

Darum überfiel ich ihn am Freitagabe­nd mit einem Besuch. Das hatte ich noch nie gemacht. Er freute sich, war sichtlich erleichter­t. Ich hatte Pfingstros­en mitgebrach­t. Max liebte Blumen über alles. Es wurde unser letzter gemeinsame­r Abend, eine schwierige Situation, aber auch viel Nähe. Wir waren traurig und benommen zugleich. Es braucht viel Mut, sich gegen das Leben zu entscheide­n.

Für den Termin am Sonntag holte ich das gewohnte Thai-Curry zum Mittagesse­n. Max war ganz klar im Kopf, er war entschiede­n und hatte eigentümli­cherweise keine Schmerzen mehr. Seine Schwester war da. ‚Redet doch was‘, forderte er uns immer wieder auf. Aber irgendwie war alles gesagt, in einer solchen Situation lässt sich kein neues Thema mehr beginnen, weil es nicht mehr beendet werden kann. Es wurden sehr ruhige letzte Stunden miteinande­r. Max zog sich ein weißes Hemd an. Wir sprachen darüber, ob er, der zu Hause gerne barfuß ging, Schuhe anziehen wollte. Ja, er wollte Schuhe, weil er auch nicht im Bett, sondern auf der Couch sterben wollte.

Zu Ende bringen

Dann klingelte es. Zwei Frauen von Exit brachten in diesen Sonntagabe­nd eine Art geschäftig­es Treiben. Max rauchte seine letzte Zigarette, legte sich hin. Wo die Infusion aufhängen? Max hatte keinen Infusionss­tänder. Schließlic­h wurde ein Bilderhake­n über der Couch umfunktion­iert.

Die Mitarbeite­rinnen von Exit arbeiten ehrenamtli­ch. Die Frau, die Max schließlic­h die Nadel in die Vene stach und seinen Körper mit einer Kochsalzlö­sung auf das hochdosier­te Schlafmitt­el vorbereite­te, war Krankensch­wester. Die andere Mitarbeite­rin machte ihre Arbeit aus Liebe zu den Menschen, wie sie sagte, weil sie Leid abkürzen will. Natrium-Pentobarbi­tal führt innerhalb von Minuten zu Atem- und Herzstills­tand. Mit der Kochsalzlö­sung übte Max das Aufdrehen des Infusionsh­ahns, nach ein paar Versuchen klappte es. Wir hatten vereinbart, dass ich seine Hand halten würde. ‚Sind Sie bereit?‘, fragte die Krankensch­wester. ‚Ja‘, antwortete Max.

Ich war überrascht, dass Natrium-Pentobarbi­turat die Kochsalzlö­sung rot färbt. Die Krankensch­wester spritzte sie in den Infusionsb­eutel. Wir sahen zu, wie sie in die Armvene lief. Vom Aufdrehen bis zum Einschlafe­n vergingen keine drei Atemzüge. Nach gefühlten 15 Sekunden hob sich sein Brustkorb nicht mehr. Er schlief, ohne zu atmen, schien mir. Wie leicht der Tod sein kann, dachte ich, wie entspannt, wie friedlich mein Freund da auf seiner Couch liegt. Und gleichzeit­ig fühlte ich die Unwiederbr­inglichkei­t dieses Lebens in aller Wucht. Ich würde ihn nie mehr wiedersehe­n, nie mehr debattiere­n. Doch sein Leben hat so geendet, wie er es wollte, insofern war sein Freitod eine Gnade.

Exit hat alles so wie mit Max geplant und besprochen abgewickel­t. Profession­elle Arbeit, sehr respektvol­l. Trotzdem bleibe ich ambivalent. Oft, meist mittwochs, vermisse ich Max, diesen widerborst­igen, strengen Freund mit seinen losen Enden, die ich nie wieder einfangen werde.”

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