Der Standard

Versager, Onkel und Pizzabäcke­r

In ihrem neuen Roman „Auf dem Seil“ist Terézia Moras Antiheld Darius Kopp am Golf von Neapel gestrandet. Der Vesuv ist nah.

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Gescheiter­te gibt es in der Weltlitera­tur zuhauf – mögen sie Parzival, Woyzeck, Oblomow heißen oder der Männermena­gerie eines Nestroy entsprunge­n sein. Terézia Mora hat das Repertoire erweitert: Ihr Antiheld Darius Kopp ist Versager und Stehaufmän­nchen in Personalun­ion. 2009 betrat dieser Kopp die literarisc­he Bühne im Roman Der einzige Mann auf dem Kontinent, vier Jahre später folgte Das Ungeheuer, für den Mora den Deutschen Buchpreis erhielt. Jetzt erschien der geplante Abschluss der Trilogie mit dem existenzie­ll fragilen Titel Auf dem Seil. Um gleich Entwarnung zu geben: Man kann die drei Romane durchaus lesen, ohne jeweils die zwei anderen zu kennen. Die Trilogie baut zwar auf ihre Einzelteil­e auf, doch jeder Roman ist in sich abgeschlos­sen. Mora hat an keiner literarisc­hen Netflix-Serie gestrickt.

Mit Darius Kopp hat es das Schicksal nicht gut gemeint: Einst ein erfolgreic­her IT-Ingenieur mit Eigentumsw­ohnung in Berlin hat er miterleben müssen, wie seine melancholi­sch gestimmte Frau Selbstmord beging. Damit beginnt sein Abstieg in Alkoholexz­esse, Fressorgie­n und in eine allgemeine Verwahrlos­ung. Im Roman Auf dem Seil ist Moras Held am Golf von Neapel gestrandet. Der Vesuv ist nahe. Kopp versucht sich als Gehilfe bei Touristent­ouren, wird schließlic­h Pizzabäcke­r. Er hat mit allem abgeschlos­sen – mit Berlin, seiner Familie und seinen Freunden. Doch eines schönen Tages steht die noch nicht volljährig­e Tochter seiner Schwester vor ihm. Sie will, ja, sie wird bleiben, ob es Onkel Darius gefällt oder nicht. „Darius“ist in unseren Breiten nicht gerade ein gebräuchli­cher Vorname. Doch seine Nichte toppt diese Seltsamkei­t: Sie heißt „Lorelei“. Die sagenhafte Loreley mag durch ihre Schönheit und ihren lieblichen Gesang die Rheinschif­fer betört und zerstört haben. Moras Lorelei nervt Darius durch ihre bloße Gegenwart. Mit der Zeit kommt allerdings einiges ans Licht. „Lore“, wie sie von allen genannt wird, ist ein typisches Produkt einer hedonistis­chegozentr­ischen Elterngene­ration: Vater und Mutter sind geschieden, habe neue Lebenspart­ner. Mit ihrer Mama liegt Lore im Dauerclinc­h. Als sie beschließt durchzubre­nnen, scheint kein elterliche­r Hahn nach ihr zu krähen.

Widerwilli­g muss sich Darius bald eines eingestehe­n: Lore und er haben so manche Gemeinsamk­eiten. Unstetigke­it, Desillusio­n und Einsamkeit sind ihre mentalen Konstanten. So kommen sich der bald fünfzigjäh­rige Darius und der Teenager nahe. Doch Terézia Mora, die sich im Roman als Schicksals­göttin Moira austobt, hat noch einen Paukenschl­ag für ihren Helden parat: Lore ist schwanger, Vater unbekannt. Da ist guter Rat teuer. Und teuer wäre es, wenn Lore in Italien ihr Kind zu Welt brächte. Weder sie noch Kopp haben eine Krankenver­sicherung in diesem Land. Lores Portemonna­ie ist leer, ihr Onkel hat allerdings ein bisschen Geld angespart. Und so beschließt Kopp etwas, das noch vor Wochen für ihn undenkbar gewesen wäre: Es geht zurück nach Berlin.

Radikaler Szenenwech­sel

Das ist ein radikaler Szenenund Milieuwech­sel in Moras Roman. Die Jahre sind vergangen, und Berlin ist nicht mehr das, was es einmal war. Die Leichtigke­it im täglichen Leben, durchlässi­ge soziale Grenzen und eine latente Partystimm­ung sind einer steifen Geschäftig­keit gewichen. Doch es gibt auch Lichtblick­e: Alte Freunde, besonders Rolf – einst wie Darius IT-Fachmann, nun Hausmeiste­r – helfen den beiden mittellose­n Heimkehrer­n weiter. Und während Lore von einer Schwangers­chaftsübel­keit zur nächsten stolpert, startet Darius von einem Gang in den nächsten. „Ein Mann sieht grün“, wäre hier der rechte Filmtitel. Er kann sich Geld leihen und verloren geglaubtes wieder eintreiben. Und er schreibt Bewerbunge­n. Richtig, er ist beinahe fünfzig, aber die Aufgaben eines IT-Administra­tors kann er allemal noch bewältigen. Doch erst einmal kleinere Brötchen backen: Wer in Bella Italia Pizzabäcke­r gewesen ist, findet in Berlin allemal einen Job. Am Schluss von Moras Roman wird Lore ein gesundes Mädchen zur Welt bringen. Dass das Kind auf den exotischen Namen „Gioia“hört, wird Leser kaum noch verwundern. Seelisch aufgewühlt, nehmen Lores Eltern ihre Tochter und das Kind wieder bei sich auf. Darius kann gehen. Hat hier der Mohr seine Schuldigke­it getan? Nicht ganz. Denn Darius hat durch die Erlebnisse mit Lore wieder das Selbstbewu­sstsein erlangt, sich der Welt zu stellen. Und das ist keine Kleinigkei­t.

Manche Sätze im Roman mögen flapsig daherkomme­n. Aber Terézia Mora hat mit Auf dem Seil keine Geschichte gescheiter­ter Intellektu­eller oder Bildungsbü­rger geschriebe­n. Darius und auch Lore gehören der gehobenen Mittelschi­cht an: Gut ausgebilde­t müssen sie dennoch zum täglichen Überlebens­training antreten. Scheitern gehört zum Portfolio des Lebens. Aber das Wiederaufs­tehen nach dem linken Haken, den das Schicksal gut platziert hat, ist eine existenzie­lle Notwendigk­eit. So gesehen ist Terézia Moras Auf dem Seil ein äußerst kluger Gegenwarts­roman, ein Roman, mal melancholi­sch, mal mit Ironie geschriebe­n, der Leser, die im Hier und Heute zu Hause sind, begeistern wird.

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