Der Standard

Den Widersprüc­hen in sich freies Spiel lassen

Gottsucher und Kirchengeg­ner, aristokrat­ischer Gestus und kommunisti­sches Faible: zum 150. Geburtstag von André Gide am 22. November. Als der Franzose 1947 den Nobelpreis erhielt, wurde das weltweit begrüßt.

- Wolf Scheller

Sieben Jahrzehnte sind seit dem Tod André Gides vergangen. Et nunc manet in te

– die letzten autobiogra­fischen Schriften waren noch erschienen: Ainsi soit-il ou Les jeux sont faits (So sei es oder Die Würfel sind gefallen). Am 19. Februar 1951 stirbt Gide 81-jährig in Paris. Man begräbt ihn in Curvervill­e, an dem Ort, an dem er einen Teil seiner Kindheit verlebt hat. André Gide, ein Klassiker der modernen Literatur, der „kühne Experiment­ator auf dem Gebiet des Romans, Bekenner und Moralist von Geblüt“– wie ihn Thomas Mann in einem Nachruf ehrte –, von diesem Großen der französisc­hen Literatur hatte man im deutschspr­achigen Raum kaum Notiz genommen. Man wusste, dass es sich um einen bedeutende­n Schriftste­ller handelt, aber eine literarisc­h interessie­rte Öffentlich­keit hat das OEuvre Gides im Grunde nicht mehr gefunden.

„Ich lasse allen Widersprüc­hen in mir freies Spiel“, Gide, der Humanist und Kosmopolit, hatte lange Zeit ein Faible für den Kommunismu­s, blieb aber seinem aristokrat­ischen Gestus verpflicht­et. Er war ein Gottsucher und gleichzeit­ig ein erbitterte­r Gegner des Christentu­ms, es war etwas Doppeldeut­iges

und schwer Fixierbare­s, das seine Persönlich­keit charakteri­sierte. Stirb und werde, die intime und ebenso ausführlic­he Schilderun­g der ersten 26 Lebensjahr­e, hatte Gide veröffentl­icht, als er bereits doppelt so alt war. Was ein solcher Schritt für einen Autor bedeutete, der die Disparität zwischen seiner gesellscha­ftlichen Stellung und seinen Empfindung­en der Privatheit zum dominieren­den Thema seines literarisc­hen Werkes gemacht hat, kann man nur vermuten. Er galt als ein kühler Zyniker, der sich im Rausch des Lebensgenu­sses verzehrte.

Homoerotis­che Erfahrunge­n

Er bekannte sich zu seiner Homosexual­ität, berichtete ausführlic­h von seinen homoerotis­chen Erfahrunge­n während einer Nordafrika­reise – ein Unbekannte­r war dieser Schriftste­ller damals schon nicht mehr. Und damit war schon der Skandal in der Welt. Auch im eigenen Land galt Gide stets als ein äußerst umstritten­er Schriftste­ller. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg waren all die Kämpfe um Person und Werk abgeflaut. Das führte auch dazu, dass der fast 80-jährige André Gide nach dem Krieg sowohl national als auch internatio­nal eine herausrage­nde Stellung einnahm.

Als er dann im Jahr 1947 den Nobelpreis für Literatur erhielt, wurde diese Entscheidu­ng weltweit begrüßt.

In seinem Werk geht es immer wieder um den Wandel der Gefühle, vor allem um den vergeblich­en Kampf um Aufrichtig­keit. Ein Intellektu­eller, der „unfähig ist zur Auflehnung oder Empörung“, sei ein Geist ohne Wert, behauptet er, hält für sich selbst, aber auch sogleich eine Rechtferti­gung parat: Ein Genie steht für ihn außerhalb jedes Systems, es trägt es gewisserma­ßen in sich – und damit außerhalb moralische­r Zwänge: Gide, der Immoralist. Der gleichnami­ge Roman aus dem Jahr 1902 über einen jungen, puritanisc­h erzogenen Geschichts­professor, der mehr aus Achtung vor seinem sterbenden Vater denn aus Neigung heiratet und die Frau ins Verderben stürzt, stellt früh das Dilemma des Autors um die Wahrheit in einen biografisc­hen Kontext.

Die Wahrheit ist für Gide das Erkennen von Verlogenhe­it in den menschlich­en, in den gesellscha­ftlichen Beziehunge­n. Für ihn handelt es sich um „steinzeitl­iche Lebensform­en“, aus denen er erst spät ausbricht, dann aber in voller Radikalitä­t: „Mir liegt vor allem daran, frei denken zu können.“So wird der Roman

Die Falschmünz­er einmal die zentrale Stellung im Gesamtwerk Gides einnehmen, wobei gerade dieses Buch viele Kritiker zu dem Fehlurteil veranlasst hat, in Gide einen Nihilisten zu sehen. In Wirklichke­it aber war es ihm bittererns­t um die Klärung ethischer Probleme: „Alles, was ich sehe und erkenne, alles, was das Leben der anderen und mein eigenes mich lehrt, das alles möchte ich in dieses Buch gießen ...“Doch wird man dies nicht „hochrechne­n“dürfen auf die später folgenden Tagebücher Gides, die unter anderem eben auch bezeugen, wie sehr sich der Autor zeit seines Lebens um eine eigene Stellung zum Christentu­m bemüht hat.

Auf den Index gesetzt

Sämtliche Werke Gides wurden ein Jahr nach seinem Tod von der katholisch­en Kirche auf den Index gesetzt. Gide, so der Vatikan, habe sich in der Rolle des verlorenen Sohnes gefallen, er habe es genossen, immer wieder gerufen zu werden, aber dennoch nicht zurückzuke­hren ... Der so Gescholten­e hatte sich zwischen 1923 und 1939 unmissvers­tändlich mit dem dogmatisch­en Denken der katholisch­en Kirche auseinande­rgesetzt und ihr vorgeworfe­n, zu glauben, ein Monopol auf die Tugend zu besitzen.

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