Libanon will Revolution
Die Oktoberrevolution im Libanon wurde zur Novemberrevolution. Korruption und Wirtschaftskrise treiben die Menschen seit 39 Tagen auf die Straße. Sie fordern einen Systemwechsel.
Seit 39 Tagen demonstrieren die Massen im Libanon für einen Systemwechsel. Die Wirtschaft leidet immer stärker.
In den Morgenstunden ist es im Zentrum von Beirut seit Ausbruch der sogenannten Oktoberrevolution besonders ruhig. Die Straßen sind abgesperrt, nur ein leises Flammenknistern ist zu hören. Die Feuerstellen halten jene warm, die dort seit Ausbruch der Proteste am 17. Oktober nächtigen. Plötzlich werden sie von hektischen Rufen geweckt. Mitten auf dem Märtyrerplatz, einem der wichtigsten Schauplätze der Proteste, steht eine Säule in Flammen. Ein Mann hat das dort angebrachte Transparent angezündet – eine riesige Faust mit dem Schriftzug „Thawra“(Revolution) – und dann per Motorrad die Flucht ergriffen.
Das Video der brennenden Faust verbreitet sich via Whatsapp, einem der wichtigsten Kanäle der Demonstranten. Es landet auch bei Nour Hifaoui. Sie hat von Anfang an alles stehen und liegen gelassen, um zu demonstrieren, und schwankt – wie viele Libanesen – zwischen Aufbruchstimmung und Hoffnungslosigkeit. Ob ein Systemwechsel überhaupt möglich ist, fragt sich die junge Grafikerin. „Sollte ich mich lieber wieder auf mein eigenes Leben konzentrieren? Aber was dann?“
Auslöser Whatsapp-Steuer
Nach Jahren der Rezession ist die Arbeitslosenquote hoch und das Leben zu teuer. Auch der Staat braucht dringend Geld. Die Regierung wollte es sich von den Bürgern holen. Mit einem Reformpaket, mit dem sie auch Whatsapp-Telefonate besteuern wollte, löste sie aber eine nie dagewesene Protestbewegung aus. Die Steuer wurde zurückgezogen, doch die Menschen aus allen politischen Lagern blieben auf den Straßen. Der gemeinsame Vorwurf an die nach Konfessionen aufgeteilte Staatsspitze: „Haramyye!“(Ihr Diebe!). Das Triumvirat aus dem christlichen Präsidenten (der Maronit Michel Aoun), dem zurückgetretenen Premier (der Sunnit Saad Hariri) und dem Parlamentspräsidenten (der Schiit Nabih Berri) hätte die Staatsverschuldung vorangetrieben und sei öffentliche Leistungen schuldig geblieben. Das Stromnetz funktioniert nur einige Stunden pro Tag. Bildungund Gesundheitswesen sind so teuer, dass sie nur den wenigsten zugänglich sind.
In der nördlichen Küstenstadt Tripoli lebt laut Weltbank knapp die Hälfte der Haushalte unter der Armutsgrenze, das heißt, von zwei Dollar pro Tag. Jeden Tag finden sich zahlreiche Bewohner im Zentrum um ein provisorisches DJ-Pult ein, um bei lauter Musik Parolen gegen die Regierung zu skandieren.
„Schlimmeres steht uns auf jeden Fall bevor“, sagt Diana Kallas vom Recherchezentrum Kulluna Irada. Denn inzwischen seien auch die Banken knapp bei Kasse. Die libanesische Lira ist mit einem fixen Wechmarschieren selkurs an den US-Dollar gekoppelt. Weil im Libanon wenig produziert wird, müssen die meisten Güter importiert werden. Dafür gebe es nicht mehr genug Dollar im Land, so Kallas. Deshalb werden die Getreidereserven bereits gefährlich knapp, die Preise der Grundgüter steigen an. Kallas befürchtet, dass Reiche ihr Geld ins Ausland schaffen und die Ärmsten leer ausgehen.
Leerstehende Neubauten
Auch der Enthüllungsjournalist Habib Battah kritisiert den Unwillen der Regierung, die Banken zu regulieren. „Man darf mit dem Finger aber nicht nur auf die politische Elite im Land zeigen“, so Battah. Dieses System hätten auch ausländische Regierungen mit Zahlungen und Krediten bedient; und von der Misswirtschaft auch viele internationale Firmen profitiert. Battah zeigt auf die leer stehenden Neubauten, die den Märtyrerplatz in Beirut säumen – die Aufträge dafür bekamen hauptsächlich ausländische Stararchitekten und Bauträger.
Inzwischen tummeln sich wieder Tausende zwischen den hochmodernen Glasfassaden. Die Regierung hat die Militärparade anlässlich des Nationalfeiertags in ein abgeriegeltes Areal verlegt. Stattdessen
Menschen auf und ab. Im Zeichen des gewaltfreien Ungehorsams schlagen sie Pfannen und Töpfe aneinander. Auch Nour Hifaoui ist dabei und will weiterhin für ihre Zukunft kämpfen. Die Euphorie steht allen ins Gesicht geschrieben – vor allem, als sich ein großer Lkw durch die Menschenmenge quetscht. Auf seiner Ladefläche liegt eine neue Faust. Darauf steht: „Thawra Version 2.0“.