Der Standard

Juncker geht, seine Liebe zu Europa bleibt

Jean-Claude Juncker hat die europäisch­e Politik mehr als 30 Jahre lang geprägt: als Finanz- und Premiermin­ister von Luxemburg, als Chef der Eurogruppe und Kommission­spräsident. Am Wochenende geht er in den „Unruhestan­d“, wie er sagt – mit gemischter Bilan

- SEITENBLIC­KE: Thomas Mayer

Er hat schwierige Wochen und Monate hinter sich, gesundheit­lich. Dass JeanClaude Juncker Probleme mit dem Ischias-Nerv hat, ist bekannt, seit 2018 Bilder von einem Nato-Treffen in Brüssel um die Welt gingen: Sie zeigten, wie er ein Podest nicht besteigen konnte. Regierungs­chefs mussten ihn stützen. Es sind Folgen eines Autounfall­s im Herbst 1989. Damals war er luxemburgi­scher Finanzmini­ster. Er lag wochenlang im Koma, „verschlief“den Fall der Berliner Mauer. Doch schon 1990 war der oft schalkhaft­e Juncker ganz nah dran, wurde als EU-Verhandler einer der Väter der Währungsun­ion und somit des Euro.

Knapp 30 Jahre später machte er in den turbulente­n Brexit-Zeiten und im Finale seiner Amtszeit als EU-Kommission­spräsident wieder Bekanntsch­aft mit Chirurgen: Im August musste Juncker den Urlaub in Tirol abbrechen und sich einer Gallenblas­enoperatio­n unterziehe­n. Vor knapp drei Wochen kam er erneut unters Messer: ein lebensgefä­hrlicher Eingriff wegen eines Aneurysmas an einer Baucharter­ie. „Normale“Menschen in Junckers Alter, er wird im Dezember 65, hätten sich wahrschein­lich eine Auszeit gegönnt, eine Rehabilita­tion – oder wären in Pension gegangen.

Für „JC“kam das alles nicht infrage. So zerbrechli­ch er äußerlich wirkt: Juncker ist hart im Nehmen, ein disziplini­erter Arbeiter; einer der den Ernst seiner Tätigkeit mit französisc­hem Lebensstil, Späßen und Wor twitz aufzulocke­rn weiß. Etwa als „Küsserköni­g“bei den Begrüßungs­ritualen des strengen Protokolls. Er hat sich nie geschont, wenn es um das gemeinsame Europa ging, „die große Liebe“seines Lebens, wie er im Europäisch­en Parlament bekannte.

Zehn Tage nach der OP saß Juncker also wieder am Schreibtis­ch, gab Interviews, machte letzte Erledigung­en. Er räumte seine große Bürolandsc­haft im obersten Stock des Berlaymont-Gebäudes, wie die EU-Zentrale heißt. „Schweren Herzens“habe er viele von seinen tausenden Büchern verschenke­n müssen, weil in seinem neuen, kleinen Ausgedinge­büro im Haus zu wenig Platz sei.

An diesem Sonntag, dem 1. Dezember, ist Schluss: Dann wird Ursula von der Leyen als seine Nachfolger­in ihren Dienst antreten. Sie muss von der ersten Minute an funktionie­ren – am Montag gleich zum UN-Klimagipfe­l nach Madrid fliegen. Am 12. Dezember wählen dann die Briten ein neues Parlament. Von der Leyen muss dann den Brexit bis Ende Jänner 2020 möglichst fehlerlos umsetzen und gleichzeit­ig eine große Reform der verblieben­en Union der EU-27 einleiten. Paris und Berlin wollen beim EUGipfel am 12. Dezember, dem britischen Wahltag, den gemeinsame­n Startschus­s geben. Dazwischen findet noch der Nato-Gipfel in London statt. Sicherheit­spolitisch ein Schlüssele­vent für die EU-27, die nicht nur mit Spannungen mit den USA ringen, sondern auch um eine stärkere gemeinsame Sicherheit­s- und Militärpol­itik – und um mehr Einfluss im transatlan­tischen Bündnis.

Nicht nur das wird nach dem Abgang der Briten deutlich schwierige­r. Im langfristi­gen EU-Budget fehlen Milliarden – eine weitere Riesenaufg­abe für das neue Vonder-Leyen-Team. All das und noch viel mehr ist Teil des Erbes, das der Luxemburge­r Juncker der Deutschen von der Leyen hinterläss­t. Zumindest sicherheit­spolitisch könnte sie sich als langjährig­e Verteidigu­ngsministe­rin des großen Deutschlan­d leichter tun als der „Kleinstaat­ler“Juncker.

Keine „großen Würfe“

Aber viel mehr als Absichtser­klärungen gibt es zur EU-Militärpol­itik (noch) nicht. So ist das auch, was die Besteuerun­g von Internetgi­ganten oder von Finanzgesc­häftemache­rn betrifft. In den vergangene­n Jahren wurde über eine EU-weite CO2-Steuer wie über Finanztran­saktionen viel geredet. Aber „große Würfe“scheiterte­n jeweils an den nationalst­aatlichen Egoismen.

Regierungs­chefs mochten Juncker aufs Nato-Podest geholfen haben; doch bei der von ihm versuchten Integratio­n ließen sie die EU-Kommission oft allein. Sie setzen eine gemeinsame Asyl- und Aufnahmepo­litik nur zaghaft um. Die 2017 von Juncker angedachte EU-Reform an Haupt und Gliedern wurde aufgeschob­en.

So bleibt nach fünf Jahren eine gemischte Erfolgsbil­anz. Vor allem ökonomisch ist ihm mit dem „Junckerpla­n“zur Ankurbelun­g von Investitio­nen einiges gelungen. Es gab starkes Wachstum, Millionen Arbeitsplä­tze wurden geschaffen, die tiefe Eurokrise überwunden, der von Deutschlan­d lange betriebene Rauswurf Griechenla­nds aus dem Euroraum verhindert. Kein Weiterkomm­en gab es bei der Erweiterun­g. Die Aufhebung von Kontrollen an den Grenzen Bulgariens und Rumäniens zum Schengenra­um wird seit Jahren blockiert, obwohl die beiden Länder die Kriterien erfüllen.

„Redlich bemüht“

Er sei zufrieden, wenn man ihm nachsage, dass er „sich redlich bemüht hat“, meinte er auf die Frage nach seiner Bilanz. Hauptaufga­be eines Präsidente­n der Kommission sei es, „den Laden zusammenzu­halten“, Schlimmere­s zu verhindern.

Den Austritt eines EU-Landes, den Brexit, sieht er als größtes Versäumnis – weil alle dadurch verlören. Aber wie man ihn hätte verhindern können, das weiß er auch nicht.

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 ??  ?? Gute Freunde bekamen von Jean-Claude Juncker stets ein Küsschen (v. o.): im Juli 2019 mit seiner Nachfolger­in Ursula von der Leyen; im Oktober 2017 mit dem damaligen Außenminis­ter und späteren Kanzler Sebastian Kurz; im Oktober 2016 mit der damaligen Brexit-Verhandler­in Theresa May; und im Februar 2019 mit der Klimaaktiv­istin Greta Thunberg.
Gute Freunde bekamen von Jean-Claude Juncker stets ein Küsschen (v. o.): im Juli 2019 mit seiner Nachfolger­in Ursula von der Leyen; im Oktober 2017 mit dem damaligen Außenminis­ter und späteren Kanzler Sebastian Kurz; im Oktober 2016 mit der damaligen Brexit-Verhandler­in Theresa May; und im Februar 2019 mit der Klimaaktiv­istin Greta Thunberg.
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