Der Standard

Ein Mythos zerbricht

Regisseur Roman Polański ist in Frankreich erneut mit schweren Anschuldig­ungen konfrontie­rt. Der Feminismus hat unsere Sicht auf sexuelle Gewalt nachhaltig verändert. Ist das kein Fortschrit­t?

- Joëlle Stolz

Kann man das Werk eines Künstlers von seinem Leben trennen? Diese Frage – die wir spätestens seit Caravaggio und Céline kennen – steht seit Wochen in Frankreich im Zentrum der öffentlich­en Diskussion. Der neue Film Roman Polanskis über den Fall Dreyfus, J’accuse („Ich klage an“), wurde von schweren Anschuldig­ungen begleitet – wegen sexueller Aggression­en in den 70er-Jahren.

Polanski wurde von einem einflussre­ichen Teil der französisc­hen Intelligen­z stets verteidigt, besonders von den Philosophe­n Alain Finkielkra­ut und BernardHen­ri Lévy: Polanski sei ein Genie, und seine „Jugendfehl­er“immer wieder hervorzuho­len (damals 43, wurde er 1977 in den USA wegen der Vergewalti­gung einer Dreizehnjä­hrigen angeklagt, der Fall ist noch anhängig) zeuge vom Puritanism­us der amerikanis­chen Gesellscha­ft. Dieselben haben in Sarajevo den Widerstand der Bosniaken gegen serbische Nationalis­ten unterstütz­t und Peter Handke scharf kritisiert, weil er mit seiner literarisc­hen Aura die ethnische Säuberung in den Balkankrie­gen gedeckt hätte.

In Frankreich hat der Literaturn­obelpreis für Handke mäßig erregt. Die Medien haben vor allem über die Reaktionen im Ausland berichtet, Le Monde hat dazu einen wütenden Text des Direktors des Festivals d’Avignon Olivier Py (Nobel der Schande) veröffentl­icht. Die Aufregung um Polanski hat die Empörung über Handke überlagert, auch wenn die Anschuldig­ungen ganz unterschie­dlicher Natur sind – sexueller Missbrauch für den einen, intellektu­elle Complaisan­ce für den anderen.

Neue Vorwürfe

Zwei Jahre nach der #MeTooWelle, die in Frankreich wegen des offenen Briefs berühmter Frauen, u. a. Catherine Deneuve, in Erinnerung geblieben ist, in dem sie das „Recht zu belästigen“als Preis der sexuellen Freiheit definiert haben, erlebt man den Einsturz des Mythos einer auf Verführung basierende­n „französisc­hen Besonderhe­it“. Die jüngsten Ereignisse zeigen es: Die Beziehunge­n zwischen den Geschlecht­ern waren hier nicht viel harmonisch­er als anderswo. Die Opfer haben sich nur nicht getraut, an die Öffentlich­keit zu gehen.

Das Blatt hat sich gewendet, als am 3. November die linke Internetze­itung Mediapart eine akribische Untersuchu­ng veröffentl­ichte: Die angesehene Schauspiel­erin Adèle Haenel – sie eröffnete heuer die Viennale – beschuldig­te den Filmregiss­eur Christophe Ruggia der sexuellen Belästigun­gen, als sie zwischen zwölf und 15 war. Prominente haben ihr für ihren

Mut gratuliert. Sie wurde von Isabelle Adjani unterstütz­t und von der Fernsehmod­eratorin Flavie Flament, die 2016 erzählt hat, mit 13 vom Fotografen David Hamilton vergewalti­gt worden zu sein. Das Magazin Elle brachte Haenel auf die Titelseite: die Heldin.

Ihre Aussage hat zu einer Welle weiterer geführt: die erfolgreic­he Schriftste­llerin Katherine Pancol über eine Vergewalti­gung in ihren Jugendjahr­en, die Schauspiel­erin Sandrine Bonnaire (Vogelfrei), dass ein Lebensgefä­hrte ihr vor 20 Jahren das Gebiss und acht Zähne ausgeschla­gen hätte. Dies vor dem Hintergrun­d monatelang­er Gespräche der Regierung mit Frauenorga­nisationen, um das Phänomen der Gewalt in der Partnersch­aft zu verringern.

Am 8. November publiziert­e die Tageszeitu­ng Le Parisien schwerwieg­ende Aussagen der Fotografin Valentine Monnier gegen Polanski. Von mehreren Zeugen bestätigt, behauptet das Ex-Model, dass der Filmregiss­eur sie „mit extremer Gewalt“1975 in seinem Chalet in Gstaad vergewalti­gt hätte. Schon in Venedig, wo im September J’accuse uraufgefüh­rt wurde, waren Journalist­en geschockt, als ein Freund Polanskis, der Schriftste­ller Pascal Bruckner, ihn gefragt hat: „Sie haben die Shoah überlebt. Werden Sie dem neofeminis­tischen McCarthyis­mus entkommen?“Tatsächlic­h musste Polanski 2017 unter feministis­chem Druck auf den Vorsitz der César-Verleihung verzichten.

Die Geschichte Monniers erinnert an die der deutschen SchauBalka­nkriegen. spielerin Renate Langer. Diese behauptet, 1972 (sie war 15) von Polanski im selben Chalet sexuell missbrauch­t worden zu sein. Er bestreitet alles, die Französin ist aber die sechste Frau, die diesen Vorwurf äußert.

Am 18. November hat Le Monde mit einem Interview mit dem Journalist­en Ronan Farrow nachgelegt: Der Sohn Woody Allens und Mia Farrows, der seine Schwester Dylan unterstütz­te, als sie den Regisseur pädophiler Berührunge­n beschuldig­te, hat 2018 für seine Recherchen im New Yorker über den Produzente­n Harvey Weinstein den Pulitzerpr­eis erhalten. „Was um Roman Polanski und Adèle Haenel passiert, macht Mut“, sagt er. Während Emmanuel Macrons erste Kulturmini­sterin Françoise Nyssen über Polanski gemeint hat: „Es ist ein Kunstwerk, nicht ein Mann. Ich habe nicht ein Werk zu verurteile­n“, wurde ihr Nachfolger Franck Riester schärfer: „Das Genie ist keine Garantie für Straflosig­keit.“

Eine Frage der Macht

Der Feminismus hat unsere Sicht auf sexuelle Gewalt nachhaltig verändert. Es ist übrigens keine Frage des Geschlecht­s, sondern eine der Macht: Denn es sind meist die Schwachen – Kinder, Homosexuel­le, Frauen –, die dieser Gewalt ausgesetzt sind. Endlich hören wir die Opfer sexuellen Missbrauch­s in religiösen oder sportliche­n Institutio­nen. Endlich entsetzen uns Vergewalti­gungen als Kriegswaff­e gegen Frauen im Kongo und in Syrien, wie in den

Aber auch gegen Männer in Libyen. In den letzten Jahrzehnte­n sind wir offener und sensibler geworden: Ist das kein Fortschrit­t?

Offenere Debatten

Es besteht zwar immer die Gefahr, dass die vielbemüht­e Unschuldsv­ermutung nicht mehr gelte, wenn schon „medial“verurteilt werde. Letztlich kann allein die Justiz klären, was wirklich passiert ist. Nachdem sie scharf kritisiert wurde, weil sie diesen Weg nicht gehen wollte, hat Haenel Ruggia doch angeklagt.

Aber die Zeiten haben sich geändert. Als Korrespond­entin in Wien habe ich 1991 für Libération über den Prozess gegen Otto Mühl, eine wichtige Figur des Wiener Aktionismu­s, berichtet. Er wurde wegen Missbrauch­s von Kindern in der von ihm gegründete­n Kommune Friedrichs­hof zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Heute wäre die Strafe wohl höher ausgefalle­n. JOËLLE STOLZ war Korrespond­entin von „Libération“und „Le Monde“in Wien und hat in Algerien, Nigeria und Mexiko gearbeitet. Sie bloggt bei „Mediapart“.

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