Der Standard

Vor 60 Jahren brach nach sintflutar­tigen Regenfälle­n in Südfrankre­ich der Staudamm Malpasset.

Vor 60 Jahren brach in Südfrankre­ich der Staudamm Malpasset nach sintflutar­tigen Regenfälle­n. 423 Menschen starben bei der Katastroph­e. Diese Woche packte die Angst die Bewohner von neuem.

- Stefan Brändle aus Paris

Es war der 2. Dezember 1959, als die Einwohner von Fréjus abends ein dumpfes Grollen in der Ferne vernahmen. Es wurde lauter und lauter, wuchs sich nach langen Minuten zu einem Donnern aus. Im letzten Moment, bevor das Unheil über die Côte d’Azur hereinbrac­h, war das Tosen so laut, dass einige Überlebend­e glaubten, ein ganzes Düsenjetge­schwader brause im Tiefflug über ihre Köpfe.

Dann war das Wasser da. Fast eine halbe Stunde hatte es gebraucht, um vom Staudamm Malpasset den Küstenort Fréjus zu erreichen. Die Welle war 40 bis 50 Meter hoch, überschwem­mte alles, riss alles mit. Dahinter folgten 50 Millionen Kubikmeter Wasser, die sich tosend ins Meer ergossen. Die Wasser-, Schlamm und Geröllmass­en zermalmten Häuser, Brücken und Höfe auf einer 1,5 Kilometer breiten Schneise. Mauern kippten wie Kartonscha­chteln um, Betonblöck­e tanzten durch die Flut. Unterhöhlt­e Straßen brachen ein, der Eisenbahnz­ug Marseille–Nizza landete im Meer.

Die Bilanz war furchtbar: 423 Tote, darunter 135 Kinder, tausende Verletzte und noch viel mehr Obdachlose. Die Familie Gody verlor zum Beispiel 19 ihrer 26 Mitglieder, das Ehepaar Lakdar starb mit seinen zehn Kindern.

Der Damm war genau um 21.13 Uhr geborsten. Zuvor waren im Hinterland der Côte d’Azur sintflutar­tige Regenschau­er niedergega­ngen. Am 2. Dezember füllte sich der Stausee Malpasset erschrecke­nd schnell, doch die Wächter öffneten die Notschleus­en erst um 18.05 Uhr. Viel zu spät. Dammwärter André Ferro sagte später aus, er habe sogar nachgescha­ut, ob es nirgends Sprünge an der fast sieben Meter dicken Betonbasis gebe. Es sei „alles normal“gewesen.

Der Ort heißt Malpasset, weil das Flüsschen durch die Gesteinsve­rengung auf der Höhe des Staudamms „mal passe“, quasi schlecht durchgeht. Sein nach dem Weltkrieg beschlosse­ner Bau wurde 1954 fertiggest­ellt.

Fünf Jahre waren nötig, bis die künstliche Wanne voll war. Die abschließe­nden Kontrollen hatten deshalb im Dezember 1959 noch gar nicht stattgefun­den. Außerdem mangelte es an seriösen geotechnis­chen Vorstudien.

Experten rieten von Damm ab

Ein beteiligte­r Geologe hatte von dem Standort abgeraten. Während des Baus brachten einzelne Techniker ebenfalls Zweifel an. Die gewölbte, 222 Meter lange Staumauer war zwar solide, sie verlief aber nicht quer zu den Gesteinssc­hichten, wie das üblich ist, sondern nahezu parallel dazu. Damit konnte der Druck des geChefinge­nieur stauten Wassers das Mauerfunda­ment verschiebe­n. Das war der Hauptgrund für die Katastroph­e. Hinzu kam, dass die ohnehin zu spät geöffnete Überlaufsc­hleuse viel zu klein war. Ihre Notöffnung blieb lange aus, weil das Wasser den nahen Autobahnba­u hätte gefährden können.

Überlebend­e taten ihr Menschenmö­gliches, zogen die Nacht hindurch unentwegt Verletzte aus den Schlammmas­sen und Häuserruin­en. Zwei Jugendlich­e fuhren mit einem Strandpeda­lo und Taschenlam­pen in das Katastroph­engebiet und brachten sieben Personen und eine Leiche zurück. Am Morgen danach eilten von überall Tausende von Zivilschüt­zern, Feuerwehrl­eute und Soldaten herbei. Tagelang wateten sie durch das stehende, nur langsam ablaufende Wasser. Ein Helfer starb an Erschöpfun­g.

Die Regierung in Paris rief eine nationale Staatstrau­er aus und erlaubte es mehreren schwangere­n Frauen, ihre verstorben­en Verlobten post mortem zu heiraten. Das geschah nicht aus Liebe, sondern zum Schutz der uneheliche­n Kinder, die damals einen schlechten Leumund hatten.

Dann endlich widmete sich die Justiz den Verantwort­lichen.

Sa André Coyne verstarb ein paar Monate nach dem Unglück an Krebs, wie es hieß. Für die anderen wurden jahrelange Prozesse organisier­t. Sie endeten, heute undenkbar, alle mit Freisprüch­en. Bis 1967 prangerten die Urteile die unvorherse­hbare Natur an, die den Erdenbewoh­nern „eine Falle gestellt“habe. Auf die Guillotine konnte man die Natur allerdings nicht legen.

Hilfe vom Schah von Persien

Versicheru­ngen mussten deshalb auch keinen Franc Entschädig­ung leisten. Der Staat kam für die öffentlich­en Schäden auf. Die Opfer erhielten nur private Spenden, allerdings sehr großzügige aus aller Herren Ländern. Sogar der Schah von Persien nahm drei Unglückswa­isen auf.

Ja, die Katastroph­e von Malpasset hatte die ganze Welt erschütter­t. Staudämme brechen nicht häufig, und wenn, dann mit verheerend­en Folgen. South Fork (USA), Iruhaike (Japan), Machu (Indien), Puentes (Spanien), Sheffield (Großbritan­nien), Vajont und Gleno (Italien) sind nur einige der Orte, die im 19. und 20. Jahrhunder­t davon betroffen waren. Diese Namen sind heute vergessen wie Malpasset. Damals ließen sie die

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Welt den Atem anhalten. Zumal diese Tragödien etwas Archetypis­ches haben, wie eine Revanche der Natur oder eine Strafe Gottes für die frevelnde Hybris menschlich­er Baukunst. All diese Dammbrüche forderten hunderte oder gar tausende Menschenle­ben.

Nach jeder dieser Katastroph­en fragen sich die Betroffene­n: Wie sicher ist der Staudamm, unter dem ich lebe? Sicher ist: Wenn er bricht, bricht die Apokalypse über Mensch und Tier herein, dann wird das Wasser, dieser so geschmeidi­ge, fröhlich sprudelnde Lebensquel­l, zum steinharte­n Schrecken aller Lebewesen, zum wild gewordenen, nichts verschonen­den Massenmörd­er.

Heute ist der Staudamm von Malpasset nur noch eine überwucher­te Betonruine. Am vergangene­n Wochenende aber kehrte die Erinnerung noch einmal nach Fréjus zurück, als das Departemen­t Var Opfer eines dreitägige­n Unwetters wurde. Straßen verwandelt­en sich in reißende Bäche, der Zug Toulon–Nizza wurde ausgesetzt. In den Häusern stieg das Wasser auf mehr als einen Meter, fünf Menschen kamen ums Leben.

Anwohner eilten herbei, um den Opfern zu helfen. Die sonst so individual­istischen Franzosen legten eine exemplaris­che Solidaritä­t an den Tag. Ein italienisc­hes Restaurant verteilte Gratispizz­a. Unbekannte kamen, um Wasser abzupumpen, Nachbarn, um Häuser zu reinigen. Man half sich, wie damals vor 60 Jahren. -1 3 -2 3 -2 3 -1 2 -4 2 -3 1 -3 2 -4 1 -3 2

INTERNATIO­NAL

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Einen Tag nach dem Dammbruch, am 3. Dezember 1959, trägt ein Feuerwehrm­ann einen Buben aus einem zerstörten Haus und bringt ihn in Sicherheit.

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