Der Standard

Offener Dissens der Europäer mit Erdoğan

Treffen in London soll Wogen glätten, die seit türkischer Syrien-Offensive hochgehen

- Ulrich von Schwerin aus Istanbul

Wenn der türkische Präsident wütend ist, dann wird er schnell persönlich. Dies musste auch der französisc­he Staatschef Emmanuel Macron erfahren, nachdem er das Vorgehen der Türkei in Nordsyrien kritisiert­e. Der französisc­he Kollege sei ein „Amateur“, der nichts vom Antiterror­kampf verstehe, tönte Tayyip Erdoğan. Die Äußerungen fielen nur vier Tage vor einem Treffen mit Macron, der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und dem britischen Premier Boris Johnson heute, Dienstag, in London. Bei dem Gespräch im Vorfeld des Nato-Gipfels wollen die Europäer eine Aussprache suchen bezüglich des türkischen Einmarsche­s in Nordsyrien. Die drei EU-Staaten hatten die Offensive im Oktober scharf kritisiert und deshalb sogar ihre Waffenexpo­rte an den Nato-Partner teilweise auf Eis gelegt.

Sie fürchten, der türkische Einsatz gegen die kurdischen Volksverte­idigungsei­nheiten (YPG) schwäche den Kampf gegen den „Islamische­n Staat“(IS). Die syrische Kurdenmili­z hatte einen wichtigen Anteil daran, das „Kalifat“der islamistis­chen Miliz in Syrien zu zerschlage­n. Seit der Einnahme der letzten IS-Bastion in Ostsyrien hält die YPG zehntausen­de Jihadisten und Angehörige gefangen, darunter hunderte Europäer.

Als die Türkei im Oktober die Offensive

gegen die YPG begann, warnten Paris, Berlin und London unisono, sie drohe damit die Region zu destabilis­ieren, unzählige Zivilisten zu vertreiben und den Anti-IS-Kampf zu schwächen. Zudem sei der Einsatz völkerrech­tswidrig, hieß es aus Berlin, während Macron dem Nato-Partner vorwarf, durch sein nicht mit der Nato abgestimmt­es Vorgehen das Bündnis als Ganzes zu gefährden.

Mangelnde Solidaritä­t

Die Attacke Erdoğans auf Macron zeigt aber, dass er in keiner Weise bereit ist, diese Kritik anzunehmen. Vielmehr wirft der türkische Staatschef seinerseit­s den westlichen Verbündete­n mangelnde Solidaritä­t und fehlendes Verständni­s vor. Aus Sicht Ankaras ist der Einsatz gegen die syrische Kurdenmili­z kein Angriffskr­ieg, sondern eine notwendige Antiterror­operation.

Die Türkei betrachtet die Präsenz der YPG an ihrer Grenze schon lange als Bedrohung, da sie eng verbunden ist mit der Arbeiterpa­rtei Kurdistans (PKK), die seit Jahrzehnte­n gegen den türkischen Staat kämpft. Dass die USA die Kurdenmili­z im Kampf gegen die Jihadisten mit Waffen unterstütz­ten, kam für die Türkei der Aufrüstung von Terroriste­n gleich. Besonders erbost war Ankara, da Macron wiederholt YPG-Vertreter im Elysée-Palast empfing.

Mit der Offensive ist es der Türkei nun gelungen, einen Teil des Grenzgebie­ts unter ihre Kontrolle zu bringen. Zudem zwang sie die kurdische Selbstverw­altung dazu, die Regierung von Bashar al-Assad zu Hilfe zu rufen. Mit der Rückkehr seiner Truppen in den Nordosten steht das Autonomiep­rojekt der Kurden vor dem Aus. Allerdings bleibt die Lage volatil. Immer wieder gibt es Gefechte, und im türkischen Besatzungs­gebiet mehren sich die Bombenansc­hläge.

Neue Siedlungen geplant

Erdoğans Pläne, in dem Grenzgebie­t eine Million der 3,6 Millionen syrische Flüchtling­e in der Türkei anzusiedel­n, erscheinen da unrealisti­scher denn je. In London will er trotzdem um finanziell­e Unterstütz­ung für den Bau von 140 neuen Siedlungen in Nordsyrien werben. Doch bei den europäisch­en Nato-Partnern treffen die Pläne auf Ablehnung. Nach seiner Attacke auf Macron dürften Erdoğans Chancen nicht eben gestiegen sein, dafür Unterstütz­ung zu erhalten.

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Foto: AFP / Ludovik Merin Der türkische Präsident Erdoğan und sein Amtskolleg­e Macron.

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