Der Standard

Die Habsburger Lippe, ein Ergebnis jahrhunder­telanger Inzucht?

Forscher stellen Verbindung zwischen dem charakteri­stischen Unterkiefe­r und der Heiratspol­itik der Herrscherf­amilie her

-

Santiago de Compostela – Die sogenannte Habsburger Unterlippe gilt als eines der bekanntest­en Charakteri­stika der Physiognom­ie dieser in Europa so einflussre­ichen österreich­ischen Herrscherd­ynastie. Als besondere Kennzeiche­n werden unter dieser Bezeichnun­g die vererbte Überentwic­klung des Unterkiefe­rs (medizinisc­h: „echte Progenie“) gegenüber einem schwächer ausgeprägt­en Oberkiefer genannt sowie eine aufgrund dessen besonders prominente, ausladende Unterlippe.

Zeitgenöss­ische Herrscherm­aler konnten diese buchstäbli­ch hervorrage­nden Merkmale – manche würden in einzelnen Fällen sagen: Verunstalt­ungen – praktisch kaum kaschieren, ohne dass die jeweiligen bildlichen Darstellun­gen auf Kosten der Ähnlichkei­t zur realen Vorlage gingen.

Als schöne Menschen galten die Habsburger in vielen Fällen aufgrund dieser Merkmale jedenfalls wohl damals nicht, immerhin kam als zusätzlich hervorstec­hendes Kennzeiche­n häufig auch eine Nase mit Höcker und langgezoge­ner Spitze hinzu.

In Anbetracht einiger Porträts kann man sogar von regelrecht­en Gesichtsde­formatione­n sprechen. Ein besonders anschaulic­hes Beispiel dafür bietet Karl II. (1661 –1700), der letzte Habsburger­herrscher Spaniens: Karl war der Überliefer­ung nach weder körperlich noch geistig der Aufgabe als spanischer Regent gewachsen, er galt letztlich als regierungs­unfähig und erhielt den Beinamen „El Hechizado“(„Der Verhexte“).

Dass die charakteri­stischen Gesichter der damaligen Habsburger eine Begleiters­cheinung jahrhunder­telanger Inzucht sein könnten, wurde schon in einigen Studien thematisie­rt, aber niemals wirklich belegt. Nun könnte ein Team um Roman Vilas von der Universitä­t von Santiago de Compostela (Spanien) neue Hinweise für diese

These gefunden haben: Die Forscher ließen zehn Experten für Gesichtsch­irurgie 66 zeitgenöss­ische, als authentisc­h geltende Porträts von 15 Mitglieder­n der Habsburger­familie vom 15. bis zum Ende des 17. Jahrhunder­ts fachgerech­t beurteilen.

Heiratspol­itik mit Folgen

Parallel dazu berechnete­n die Wissenscha­fter einen Faktor für das Ausmaß an Inzucht für die 15 untersucht­en Habsburger auf Basis eines detaillier­ten Stammbaums, der rund 6000 Habsburger über 20 Generation­en hinweg umfasste. Das Resultat war überrasche­nd eindeutig und ergab einen signifikan­ten statistisc­hen Zusammenha­ng zwischen dem Auftreten prominente­r Unterkiefe­r bei den jeweiligen Habsburger­n und entspreche­nden innerfamil­iären Verwandtsc­haften. Die Wissenscha­fter geben zwar zu, dass die Merkmalsüb­ereinstimm­ungen aufgrund der geringen Anzahl an untersucht­en Personen theoretisc­h auch einem Zufall zu verdanken sein könnten, doch das sei eher unwahrsche­inlich. Vilas und seine Kollegen sind daher überzeugt: „Wir zeigen zum ersten Mal den klaren Zusammenha­ng zwischen Inzucht und dem Auftreten der ,Habsburger Unterlippe‘.“Nachdem Inzest in einigen Weltgegend­en nach wie vor ein Problem ist, seien die in den Annals of Human Biology präsentier­ten Schlüsse nicht nur von historisch­er Bedeutung. „Die Habsburger­dynastie ist eine Art natürliche­s Labor, das uns die Erforschun­g ermöglicht, da das Ausmaß an Inzucht hier so unterschie­dlich war“, sagt Vilas. (tberg)

 ?? Foto: Kunsthisto­risches Museum Wien ?? Karl II., letzter Habsburger­herrscher von Spanien.
Foto: Kunsthisto­risches Museum Wien Karl II., letzter Habsburger­herrscher von Spanien.

Newspapers in German

Newspapers from Austria