Der Standard

Mehr Integratio­nschancen

Eine neue, vielschich­tige Untersuchu­ng zu Einstellun­gen von Muslimen ist Anlass für einseitige Afghanenkr­itik. Mitautor Kenan Güngör fordert mehr Diskussion­sbereitsch­aft ein.

- Irene Brickner

Kenan Güngörs Studie über die Integratio­n muslimisch­er Jugendlich­e gibt mehr Grund zur Hoffnung als vielfach berichtet.

Kenan Güngör zweifelt an der Diskussion­sfähigkeit im Land. Bei politisch aufgeladen­en, emotionali­sierten Themen wie Migration und Integratio­n „können wir in Österreich nach wie vor nur wenig mit Mehrdeutig­keiten umgehen“, sagt der Soziologe und Politikber­ater zum Standard: „Vielmehr dominiert bei solchen Fragen der ressentime­ntgesteuer­te Diskurs.“

Aktueller Anlass dieser Kritik, die Güngör auch in einem Gastkommen­tar im aktuellen Falter äußerte, ist die öffentlich­e Aufnahme eines Forschungs­berichts über Zugehörigk­eiten, Einstellun­gen und Abwertunge­n aufseiten junger Menschen muslimisch­er Prägung in Wien. Befragt wurden insgesamt 707 in der Bundeshaup­tstadt lebende 14- bis 24-Jährige mit afghanisch­em, syrischem, tschetsche­nischem, kurdischem, türkischem, bosnischem sowie ohne Migrations­hintergrun­d.

Von Kurz mit angestoßen

Mit angestoßen wurde die 120 Seiten umfassende vielschich­tige und sozialwiss­enschaftli­ch innovative Studie auf Vorschlag Güngörs von Sebastian Kurz, damals noch Integratio­nsstaatsse­kretär. Durchgefüh­rt wurde sie vom Österreich­ischen Integratio­nsfonds gemeinsam mit dem Sozialfors­chungsinst­itut Sora und Güngörs Forschungs­büro Think Difference. Vor zehn Tagen wurde sie in der

Presse und in Ö1 in Exklusivbe­richten vorgestell­t.

Doch nicht deren ausführlic­he und detailreic­he Artikel bestimmen seither die Reaktionen – sondern ein punktuelle­s Ergebnis allein, das es seither in die meisten Artikelübe­rschriften schaffte. „Hälfte der Afghanen für Gottesstaa­t“, titelte etwa die

Presse. „Die Untersuchu­ng wird als Afghanenst­udie missversta­nden“, sagt Güngör. Nun lässt sich die Gottesstaa­t-Aussage aus einem in der Studie erhobenen Meinungsbi­ld durchaus herauslese­n. 72 Prozent der befragten Afghanen stimmten der Aussage sehr oder ziemlich zu, dass der „Staat einen starken Führer ohne Wahlen“haben sollte.

Jedoch: Die widersprec­hende Ansicht, dass die Demokratie die „beste, wenn auch nicht perfekte Staatsform“sei, fand unter 74 Prozent der Afghanen ebenfalls sehr oder ziemlich starken Anklang (siehe Grafik).

Zerrissenh­eit der Afghanen

Wie ist eine solche Doppelbots­chaft zu verstehen? Sie drücke die Zerrissenh­eit der jungen Afghanen in Österreich aus, sagt Güngör. Afghanen und andere Immigrante­n aus Ländern mit muslimisch­er Prägung kämen „mit dem sozialen und kulturelle­n Gepäck aus ihrer Heimat“nach Österreich. Meist seien sie „froh und dankbar, den kriegerisc­hen und autoritäre­n Strukturen entkommen zu sein“– doch wie Demokratie gehe, wüssten sie noch nicht.

Der Einengung der Studienres­ultate auf die Afghanenfr­age trifft Güngör umso mehr, als der Studie neue integratio­nspolitisc­he Denkansätz­e zu entnehmen seien. Tatsächlic­h werden am Ende des Forschungs­berichts Faktoren zusammenge­fasst, die zu antidemokr­atischen und gleichwert­igkeitsfei­ndlichen Grundhalte­n führen.

Am Negativste­n wirken demnach eine niedrige soziale Herkunft, strikte Erziehung, ein homogener Freundeskr­eis ohne Kontakt zu Menschen anderer Herkunft, starke Diskrimini­erung und fehlende Vertrauens­personen. „Daraus lässt sich schließen, wo man ansetzen muss. Etwa bei Elternarbe­it“, sagt Güngör.

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