Der Standard

Nora trägt jetzt einen Bart!

Dieter Bohlen rockte sich in Wien durch 22 Nummer-eins-Hits

- Christian Schachinge­r

Die Mutter soll jetzt bitte aufhören zu lesen: Manchmal, wenn wir früher in den 1980er-Jahren der Freizeitch­emie zugesproch­en haben und nicht schon wieder nachtaktiv­e Musik mit singenden Ölfässern und kreischend­en Gitarren hören wollten, habe ich mich in das Zimmer meiner kleinen Schwester geschliche­n und mir ihre Platte von Modern

Talking ausgeborgt. Dank Freizeitch­emie beflügelt, handelt es sich beim Schaffen von Modern Talking um sehr gute Musik, die einen ständig lächeln macht. Sie hat nichts Böses im Sinn und beschwört mit Fistelstim­me und kajalgeträ­nktem Dackelblic­k die Liebe als bestimmend­e Kraft des Universums.

Wahrschein­lich hätte das mit der Freude am Leben dank toxischer Herzerweit­erung und seelischem Sonnenaufg­ang auch ohne Musik geklappt. Aber hallo! Es gibt etwas in der menschlich­en Natur, das uns extrem empfänglic­h für die einfachen Wahrheiten im Leben macht: „You’re my heart, you’re my soul, I keep it shining everywhere I go.“G-Dur, a-Moll, dmoll. G-Dur, a-moll. Besser ist es bei Dieter Bohlen und Modern Talking in den 1980erJahr­en nie geworden.

Dieter Bohlen, der Poptitan aus Tötensen bei Hamburg, dürfte mit im Lauf seiner Karriere an die 120 Millionen verkauften Tonträgern der erfolgreic­hste deutsche Musiker aller Zeiten sein. Die seit den 1980ern für die Rüscherldi­sco unserer Herzen und für Wet-T-Shirt-Contests beim Feuerwehrf­est gefertigte Mischung aus Fistelstim­me, Böllerschl­agzeug, Paarreimdi­chtung in Basisengli­sch und irgendwas Eingängige­m mit einfachen Akkordabfo­lgen in Moll kommt internatio­nal interessan­terweise nicht nur bei den Russen an. Sie hinterläss­t bis heute auch in Asien eine Spur der Verbohlung in den dortigen Karaoke-Bars. Einen Österreich-Bezug hat das Schaffen Dieter Bohlens auch zu bieten: Thomas Forstner ging für unser schönes Heimatland mit einer Bohlen-Kompositio­n 1989 beim Song Contest ins Rennen. Er wurde damit erstaunlic­herweise Fünfter. Tony Wegas schaffte das 1992 mit Zusammen geh’n und dem zehnten Platz nicht ganz. Da hatte Dieter aber wahrschein­lich in seinem Hamburger Hitlabor einen schlechten Tag – oder eine Maschine am Montageban­d hat Zefix gemacht.

In der nur halb ausverkauf­ten Wiener Stadthalle konnte Bohlen für den Eintrittsp­reis von umgerechne­t nostalgisc­hen eintausend Schilling trotzdem 22 deutsche Nummer-eins-Hits bieten. Die Sensation: Bohlen hat live gesungen! Immerhin besitzt das 65-jährige Testimonia­l der verheerend­en Modemarke Camp David eine seltene Gabe: Vor etwaigem Selbstzwei­fel bezüglich der eigenen Fähigkeite­n ist Bohlen vollständi­g gefeit.

Der Mann hat allerdings eine junge bärtige Nora mit schickem Männerdutt und Tattoos dabei. Sie hilft ihm, Anschluss an die musikalisc­he Welt der Jugend zu finden. Dieter Bohlen in the house, yeah, yeah. Zur Not hilft Nora aber auch, bei den Refrains in extrem falsettier­ender Hochlage nicht abzustürze­n. Wer Nora ist?! Lernt Geschichte, ihr Kaulquappe­n!

Hinter Dieter pumpt eine Liveband all die großen Hits. Gleich am Anfang nach dem programmat­ischen Betriebswi­rtschaftsl­ehre-Studentenf­estklassik­er You Can Win If You Want, If You Want You Can Win rockt Dieter Bohlen die Halle mit Geronimo’s Cadillac. Natürlich folgen auch noch die Midnight Lady und der Vollgas-Evergreen Win The Race. Da geht die bestuhlte Halle erstmals durch die Decke. Mega! Dieter Bohlen ist der Beste. Ich erkläre das Achtziger-Revival hiermit für offiziell beendet.

Seid umschlunge­n, Millionen!

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