Nora trägt jetzt einen Bart!
Dieter Bohlen rockte sich in Wien durch 22 Nummer-eins-Hits
Die Mutter soll jetzt bitte aufhören zu lesen: Manchmal, wenn wir früher in den 1980er-Jahren der Freizeitchemie zugesprochen haben und nicht schon wieder nachtaktive Musik mit singenden Ölfässern und kreischenden Gitarren hören wollten, habe ich mich in das Zimmer meiner kleinen Schwester geschlichen und mir ihre Platte von Modern
Talking ausgeborgt. Dank Freizeitchemie beflügelt, handelt es sich beim Schaffen von Modern Talking um sehr gute Musik, die einen ständig lächeln macht. Sie hat nichts Böses im Sinn und beschwört mit Fistelstimme und kajalgetränktem Dackelblick die Liebe als bestimmende Kraft des Universums.
Wahrscheinlich hätte das mit der Freude am Leben dank toxischer Herzerweiterung und seelischem Sonnenaufgang auch ohne Musik geklappt. Aber hallo! Es gibt etwas in der menschlichen Natur, das uns extrem empfänglich für die einfachen Wahrheiten im Leben macht: „You’re my heart, you’re my soul, I keep it shining everywhere I go.“G-Dur, a-Moll, dmoll. G-Dur, a-moll. Besser ist es bei Dieter Bohlen und Modern Talking in den 1980erJahren nie geworden.
Dieter Bohlen, der Poptitan aus Tötensen bei Hamburg, dürfte mit im Lauf seiner Karriere an die 120 Millionen verkauften Tonträgern der erfolgreichste deutsche Musiker aller Zeiten sein. Die seit den 1980ern für die Rüscherldisco unserer Herzen und für Wet-T-Shirt-Contests beim Feuerwehrfest gefertigte Mischung aus Fistelstimme, Böllerschlagzeug, Paarreimdichtung in Basisenglisch und irgendwas Eingängigem mit einfachen Akkordabfolgen in Moll kommt international interessanterweise nicht nur bei den Russen an. Sie hinterlässt bis heute auch in Asien eine Spur der Verbohlung in den dortigen Karaoke-Bars. Einen Österreich-Bezug hat das Schaffen Dieter Bohlens auch zu bieten: Thomas Forstner ging für unser schönes Heimatland mit einer Bohlen-Komposition 1989 beim Song Contest ins Rennen. Er wurde damit erstaunlicherweise Fünfter. Tony Wegas schaffte das 1992 mit Zusammen geh’n und dem zehnten Platz nicht ganz. Da hatte Dieter aber wahrscheinlich in seinem Hamburger Hitlabor einen schlechten Tag – oder eine Maschine am Montageband hat Zefix gemacht.
In der nur halb ausverkauften Wiener Stadthalle konnte Bohlen für den Eintrittspreis von umgerechnet nostalgischen eintausend Schilling trotzdem 22 deutsche Nummer-eins-Hits bieten. Die Sensation: Bohlen hat live gesungen! Immerhin besitzt das 65-jährige Testimonial der verheerenden Modemarke Camp David eine seltene Gabe: Vor etwaigem Selbstzweifel bezüglich der eigenen Fähigkeiten ist Bohlen vollständig gefeit.
Der Mann hat allerdings eine junge bärtige Nora mit schickem Männerdutt und Tattoos dabei. Sie hilft ihm, Anschluss an die musikalische Welt der Jugend zu finden. Dieter Bohlen in the house, yeah, yeah. Zur Not hilft Nora aber auch, bei den Refrains in extrem falsettierender Hochlage nicht abzustürzen. Wer Nora ist?! Lernt Geschichte, ihr Kaulquappen!
Hinter Dieter pumpt eine Liveband all die großen Hits. Gleich am Anfang nach dem programmatischen Betriebswirtschaftslehre-Studentenfestklassiker You Can Win If You Want, If You Want You Can Win rockt Dieter Bohlen die Halle mit Geronimo’s Cadillac. Natürlich folgen auch noch die Midnight Lady und der Vollgas-Evergreen Win The Race. Da geht die bestuhlte Halle erstmals durch die Decke. Mega! Dieter Bohlen ist der Beste. Ich erkläre das Achtziger-Revival hiermit für offiziell beendet.
Seid umschlungen, Millionen!