Der Standard

Verfassung­sgericht kippt türkis-blaue Sozialhilf­ereform

Nachteile für Mehrkindfa­milien und hohe Spracherfo­rdernisse außer Kraft gesetzt

- Lisa Nimmervoll

Wien – Der Verfassung­sgerichtsh­of (VfGH) hat mit der neuen Sozialhilf­e ein weiteres türkis-blaues Prestigepr­ojekt großteils als verfassung­swidrig aufgehoben. Betroffen sind zwei Maßnahmen, die primär auf Zuwanderer gemünzt waren: ÖVP und FPÖ wollten den Bundesländ­ern, die für Sozialhilf­e zuständig sind, vorschreib­en, dass es für Familien mit mehreren Kindern pro zusätzlich­es Kind weniger Geld geben solle. Außerdem wollte Türkis-Blau die volle Sozialhilf­e an relativ hohe Sprachkenn­tnisse in Deutsch oder Englisch koppeln.

Die Höchstrich­ter sahen darin eine ungerechtf­ertigte „Schlechter­stellung von Mehrkindfa­milien“sowie eine unsachlich­e Regelung, die die Arbeitsfäh­igkeit nur auf zwei Sprachen zurückführ­e.

Die SPÖ, die das Gesetz vor den VfGH gebracht hat, jubelte über das Erkenntnis. Wien, das wie sechs andere Bundesländ­er die Vorgaben nicht umgesetzt hat, sah sich bestätigt. Ober- und Niederöste­rreich, die bereits Ausführung­sgesetze beschlosse­n haben, sehen die nächste Regierung am Zug. ÖVP und Grüne haben viel Gesprächsb­edarf: Die ÖVP konnte die Entscheidu­ng „absolut nicht nachvollzi­ehen“, die Grünen sahen einen „guten Tag für die ärmsten Kinder“. (red) THEMA Seite 2, Kommentar Seite 32

Birgit Hebein hat das erste Weihnachts­geschenk in diesem Jahr schon am Dienstag bekommen. Die Wiener Vizebürger­meisterin und grüne Koalitions­verhandler­in für den Sozialbere­ich hat sich vor einer Woche gewünscht, dass sich der Verfassung­sgerichtsh­of (VfGH) der grünen Kritik an der von Türkis-Blau beschlosse­nen „Sozialhilf­e neu“anschließe­n möge: „Es wäre mein Weihnachts­geschenk, wenn hier die Bedenken auch von unserer Seite Gehör finden würden.“

Genau das geschah nun. Das Höchstgeri­cht hat zentrale Punkte der von ÖVP und FPÖ beschlosse­nen Nachfolger­egelung für die Mindestsic­herung als verfassung­swidrig aufgehoben. Konkret zwei Maßnahmen, die sich primär gegen Zuwanderer richteten: Gekippt wurden die Höchstsätz­e für Kinder (mit steigender Kinderzahl gibt es weniger Geld pro Kind) und die Verknüpfun­g der Sozialhilf­e mit Sprachkenn­tnissen.

In ihrem Erkenntnis kommen die Höchstrich­ter zum Schluss, dass mit dem vorliegend­en Sozialhilf­e-Grundsatzg­esetz sowohl gegen den Gleichheit­ssatz als auch gegen verfassung­sgesetzlic­h eingegange­ne internatio­nale Verpflicht­ungen zur Beseitigun­g aller Formen rassischer Diskrimini­erung verstoßen werde.

Kinder kosten viel Geld

Die Höchstsätz­e für Kinder seien eine „sachlich nicht gerechtfer­tigte und daher verfassung­swidrige Schlechter­stellung von Mehrkindfa­milien“. Die den Bundesländ­ern vorgeschri­ebene Reform hätte vorgesehen, dass der Höchstsatz der Sozialhilf­eleistung von 25 Prozent (241,66 Euro) für das erste Kind über 15 Prozent für das zweite und dritte sowie für jedes weitere noch fünf Prozent des Ausgleichs­zulagenric­htsatzes (48,33 Euro) betragen hätte. Die Höchstrich­ter sind der Meinung, dass diese Regelung dazu führen könne, „dass der notwendige Lebensunte­rhalt bei Mehrkindfa­milien nicht mehr gewährleis­tet ist“.

Die Höchstsätz­e für Erwachsene hat der VfGH hingegen nicht beeinspruc­ht. Sehr wohl aber die Regelung, dass die volle Sozialhilf­e nur bei Nachweis von Sprachkenn­tnissen ausgezahlt würde. Wer Deutsch nicht auf Niveau B1 oder Englisch auf C2 nachweist, hätte nur 65 Prozent der regulären Sozialhilf­e leistung bekommen. Die Differenz von 300 Euro erklärten ÖVP und FPÖ zum „Arbeitsqua­lifizierun­gsbonus für Vermittelb­arkeit“, dieser Betrag sollte für Deutschkur­se gewidmet werden.

Für die Höchstrich­ter ist das eine „unsachlich­e Regelung“, weil keine Gründe ersichtlic­h seien, „warum nur mit Deutsch- und Englisch kenntnisse­n auf diesem hohen Niveau eine Vermittelb­arkeit am Arbeitsmar­kt anzunehmen sein soll“, heißt es im VfGHErkenn­tnis. Für viele Tätigkeite­n auf dem Arbeitsmar­kt seien weder Deutsch noch Englisch in dieser Qualität erforderli­ch. Dazukomme, dass Menschen aus unterschie­dlichsten Gründen wie etwa Lern- und Leseschwäc­hen oder Analphabet­ismus nicht in der Lage sein könnten, dieses Sprach niveau zu erreichen ,„ aber dennoch am Arbeitsmar­kt v er mittel einheitlic­he bar sein können“. Und noch ein weiteres Detail ist verfassung­swidrig: Die Verpflicht­ung zur Übermittlu­ng personenbe­zogener Daten verstößt gegen das Grundrecht auf Datenschut­z.

Im Grundsatzg­esetz selbst sieht das Verfassung­sgericht keinen unzulässig­en Eingriff in die Zuständigk­eit der Länder, auch wenn die Gewährung von Leistungen bei sozialer Hilfsbedür­ftigkeit „an sich Sache der Länder“sei.

Juristisch­er Erfolg für SPÖ

Die SPÖ, deren Bundesrats­fraktion das Gesetz vor den VfGH gebracht hatte, jubelte am Dienstag über den juristisch­en Sieg gegen die alte Regierung. Parteichef­in Pamela Rendi-Wagner sah „eine Schande für Österreich“getilgt. Wiens Sozialstad­trat Peter Hacker hörte eine „schallende Ohrfeige für Sebastian Kurz. Lauter könnte die Dätschn nicht knallen.“Bürgermeis­ter Michael Ludwig sah sich bestätigt, Wien habe „immer schon Bedenken“gegen die neue Regelung gehabt und die Vorgabe der ÖVP-FPÖ-Regierung – so wie sechs weitere Bundesländ­er – ohnehin verweigert. Nur Ober- und Niederöste­rreich haben die neue Sozialhilf­e, wie von Türkis-Blau gewünscht, bereits so umgesetzt, dass sie mit 1. Jänner 2020 in Kraft treten könnte. Niederöste­rreich will abwarten, was die neue Regierung vorlegt, auch Oberösterr­eich sieht den Bund in der Pflicht zur Gesetzesre­paratur.

Mit dem VfGH-Erkenntnis werden also die türkis-grünen Verhandlun­gen neu befeuert. ÖVPChef Kurz betonte immer, an dem türkis-blauen Prestigepr­ojekt, mit dem man auch „Zuwanderun­g ins Sozialsyst­em“verhindern wollte, festhalten zu wollen. Hebeins ÖVPGegenüb­er August Wöginger konnte das Erkenntnis denn auch „absolut nicht nachvollzi­ehen“.

Die Grünen sehr wohl, sie sprachen von einem „guten Tag für die ärmsten Kinder in Österreich“. Parteichef Werner Kogler hatte wiederholt darauf gepocht, Kinderarmu­t bekämpfen zu wollen. Die Neos hoffen auf eine durchdacht­e Reform der sozialen Absicherun­g mit mehr Treffsiche­rheit.

Und die FPÖ? Sieht schwarz. Oder, wie Klubchef Herbert Kickl meinte, die Höchstrich­ter „setzen ihre Segel ganz offensicht­lich für die sich abzeichnen­de schwarzgrü­ne Regierung“. Kommentar S. 32

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Vor einer Woche hoben die – nach dem Wechsel ihrer Präsidenti­n Brigitte Bierlein ins Kanzleramt – 13 VfGH-Richterinn­en und -Richter bereits große Teile des Sicherheit­spakets auf.

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