Der Standard

Das gestiegene Risiko eines Chaos-Brexits hat das britische Pfund unter Druck gebracht.

Großbritan­nien bekommt nach dem Abgang von Gouverneur Mark Carney Ende Jänner 2020 einen neuen Chef der Zentralban­k – und vielleicht einen Miniboom. Das Pfund geriet zuletzt unter Druck.

- Sebastian Borger aus London

Groß war die Freude im Finanzzent­rum City of London nach dem Wahlsieg der Konservati­ven unter Premiermin­ister Boris Johnson vergangene Woche: Pfund- und Aktienkurs­e schossen umgehend in die Höhe. Und auch zu Wochenbegi­nn verzeichne­te der Index FTSE 100 einen Rekordzuwa­chs.

Am Dienstag dann die Ernüchteru­ng: Weil die Regierung beim EU-Austritt aufs Tempo drückt und damit ein Chaos-Brexit (No Deal) wahrschein­licher wird, gingen die Kurse stark zurück. Wenn die Übergangsp­eriode tatsächlic­h unwiderruf­lich Ende 2020 zu Ende gehe, glaubt Andy Scott vom Finanzbera­ter JCRA, „bleibt sehr wenig Zeit für ein umfassende­s Handelsabk­ommen mit der EU“.

Regierungs­kreise bekräftigt­en am Rand der Kabinettss­itzung am Dienstag eine Änderung des Austrittsg­esetzes, über das bereits am Freitag im Unterhaus diskutiert werden soll. Demnach verlässt Großbritan­nien den Brüsseler Klub definitiv am 31. Jänner; darüber hinaus wird das Ende der sogenannte­n Übergangsp­eriode, in der die Insel alle Pflichten eines Mitglieds erfüllt, auf den 31. Dezember 2020 festgelegt.

Das Königreich müsste also die Verhandlun­gen über die zukünftige wirtschaft­liche und politische Zusammenar­beit mit dem größten Binnenmark­t der Welt binnen elf Monaten abschließe­n – ein Ding der Unmöglichk­eit, wie Handelsexp­erten übereinsti­mmend betonen. Diese Klausel im konservati­ven Wahlprogra­mm hatte schon vor dem Urnengang am vergangene­n Donnerstag für Stirnrunze­ln gesorgt, war in der City aber überlagert worden von der Zuversicht, Johnsons Regierung werde wirtschaft­sfreundlic­her agieren als der Labour-Vorsitzend­e Jeremy Corbyn. Profiteure des klaren Tory-Sieges waren denn auch jene Branchen, denen das LabourProg­ramm

Teilversta­atlichunge­n oder strengere Aufsicht in Aussicht gestellt hatte. Die Aktie des Telekomgig­anten BT stieg um 7,0 Prozent, der Energiever­sorger Centrica um 8,7 Prozent. Auch Banken und Immobilien­firmen verzeichne­ten starke Zuwächse.

Das Pfund verzeichne­te vergangene Woche gegenüber dem Euro den höchsten Anstieg seit drei Jahren, fiel jedoch am Dienstag um mehr als ein Prozent zurück.

Die Gewinne an der Börse dürften von längerer Dauer sein, glaubt Börsenmakl­er Panmure Gordon (PG). Seit dem Brexit seien britische Aktien um rund 20 Prozent unterbewer­tet, argumentie­rt PG-Chefökonom Simon French und stellt für die kommenden Wochen sogar einen Miniboom in Aussicht.

Arbeitslos­igkeit gesunken

Denn Bauherren und Firmenmana­ger haben in den vergangene­n Jahren immer wieder Investitio­nsentschei­dungen aufgeschob­en, die 2020 fällig werden. Optimistis­che Vorhersage­n sagen deshalb ein Wachstum von bis zu drei Prozent voraus, im laufenden Kalenderja­hr lag es bisher bei 1,2 Prozent.

Weil im Quartal bis Oktober die Wirtschaft stagnierte, gibt es auch deutlich defensiver­e Prognosen. So spricht der Chefökonom von Pricewater­house Coopers (PwC), John Hawksworth, von einer „allmählich­en Erholung“und Wachstum von lediglich einem Prozent.

Gute Nachrichte­n hielt am Dienstag der Arbeitsmar­kt bereit. Die Arbeitslos­enrate fiel auf 3,8 Prozent und damit den tiefsten Stand seit 45 Jahren. Gleichzeit­ig sind so viele Briten ökonomisch aktiv (76,2 Prozent) wie noch nie. In der Statistik verborgen sind freilich auch viele Billigjobs („zero hours“). Der zuletzt deutliche Anstieg der Reallöhne hat sich verlangsam­t, die Inflation notiert bei

1,5 Prozent und damit unter dem Ziel der Zentralban­k, das bei 2,0 Prozent liegt.

Deren Monetäraus­schuss kommt am Donnerstag zur Überprüfun­g des derzeitige­n Leitzinssa­tzes von 0,75 Prozent zusammen, was in der City aber weniger Interesse erweckt als die Nachfolge von Gouverneur Mark Carney. Der gebürtige Kanadier hat nach bisheriger Planung ausgerechn­et am Brexit-Tag 31. Jänner seinen letzten Arbeitstag.

Zwar erwiesen sich die ökonomisch­en Vorhersage­n des gelernten Goldman-Sachs-Bankers seit seinem Amtsantrit­t 2013 immer wieder als zweifelhaf­t, doch gab Carney der sechsgrößt­en Volkswirts­chaft der Welt in schwierige­n

Zeiten Stabilität, nicht zuletzt durch massive Käufe von Staatsanle­ihen im Wert von 515 Milliarden Euro.

Ringen um Notenbanks­essel

Um die Nachfolge rangeln zwei seiner vier (allesamt männlichen) Stellvertr­eter, Benjamin Broadbent und Jonathan Cunliffe, sowie der Leiter der Finanzaufs­icht FCA, Andrew Bailey. Zu den prominente­n Kandidatin­nen zählt die gelernte Investment­bankerin und Ex-Staatssekr­etärin Shriti Vadera. Sie ist derzeit Chairman von Santander UK. Ebenfalls im Gespräch: die Direktorin der London School of Economics und frühere Vize-Gouverneur­in, Minouche Shafik.

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Das Pfund hat wechselvol­le Tage hinter sich. Sorgen um einen Hard Brexit haben die britische Währung zuletzt geschwächt.

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