Der Standard

Ein Umbruch als Chance

- Stefan Weiss

Drill, missbräuch­liche Lehrmethod­en, Magersucht, psychische­r und körperlich­er Druck: Die Vorwürfe, mit denen sich die Ballettaka­demie der Wiener Staatsoper seit April auseinande­rsetzen muss, sind erschrecke­nd. Jahrzehnte­lang konnte in einer der prestigetr­ächtigsten Institutio­nen der Tanzwelt nach Methoden aus einem früheren Jahrhunder­t unterricht­et werden, ohne dass jemand das System ernsthaft hinterfrag­t hätte.

Nun geschieht das von externer Seite: Eine vom Bund eingesetzt­e Sonderkomm­ission hat ihren Abschlussb­ericht zur Überprüfun­g der Missstände vorgelegt und diese vollumfäng­lich bestätigt. Die Kommission betont, was Kindern und vor allem Eltern klarer denn je sein müsste: Eine profession­elle Ballettaus­bildung heißt nicht nur Hochkultur, sondern vielmehr harter Spitzenspo­rt. Dass es auch dementspre­chender Betreuung im medizinisc­hen, psychische­n und ernährungs­wissenscha­ftlichen Bereich bedarf, muss endlich allen Verantwort­ungsträger­n bewusst werden.

Wer die Verantwort­ung trägt? Der Staatsoper­ndirektor, der natürlich nicht jeder Lehrkraft hinterhers­pionieren kann, aber historisch gewachsene Strukturen zu wenig hinterfrag­t hat. Der Staatsball­ettleiter, der sich für seine Nachwuchst­änzer einzig nach Leistungsk­riterien interessie­rt hat und sich offenbar für pädagogisc­he Aufgaben nicht zuständig gefühlt hat. Die Akademiele­iterin, die Methoden, wie man sie aus der früheren Sowjetunio­n kennt, geduldet hat und nach wie vor unterricht­en darf. Und, nicht zuletzt: Eltern, die ihren blinden Ehrgeiz über das leibliche und psychische Wohl ihrer Kinder stellen.

Unverständ­licherweis­e hatte keines der Leitungsor­gane bislang die Courage, von sich aus den Hut zu nehmen. Der Umbruch kommt nun auf „natürliche­m Weg“, mit dem designiert­en neuen Staatsoper­ndirektor Bogdan Roščić ab 2020 und dem Abgang des alten Direktors Dominique Meyer an die Mailänder Scala. Roščić bekommt die Chance, die Ballettaka­demie hinsichtli­ch ihrer Betreuungs­qualität zu einer Vorzeigein­stitution umzubauen. Dafür wird – wie die Sonderkomm­ission festhielt – an neuem Leitungspe­rsonal kein Weg vorbeiführ­en.

Aus der Verantwort­ung stehlen dürfen sich aber auch die künftigen Kultur- und Bildungsmi­nister nicht. Für einen nachhaltig­en Umbau der Ballettaka­demie müssen sie ausreichen­d finanziell­e Mittel und Know-how zur Verfügung stellen.

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