Ein Umbruch als Chance
Drill, missbräuchliche Lehrmethoden, Magersucht, psychischer und körperlicher Druck: Die Vorwürfe, mit denen sich die Ballettakademie der Wiener Staatsoper seit April auseinandersetzen muss, sind erschreckend. Jahrzehntelang konnte in einer der prestigeträchtigsten Institutionen der Tanzwelt nach Methoden aus einem früheren Jahrhundert unterrichtet werden, ohne dass jemand das System ernsthaft hinterfragt hätte.
Nun geschieht das von externer Seite: Eine vom Bund eingesetzte Sonderkommission hat ihren Abschlussbericht zur Überprüfung der Missstände vorgelegt und diese vollumfänglich bestätigt. Die Kommission betont, was Kindern und vor allem Eltern klarer denn je sein müsste: Eine professionelle Ballettausbildung heißt nicht nur Hochkultur, sondern vielmehr harter Spitzensport. Dass es auch dementsprechender Betreuung im medizinischen, psychischen und ernährungswissenschaftlichen Bereich bedarf, muss endlich allen Verantwortungsträgern bewusst werden.
Wer die Verantwortung trägt? Der Staatsoperndirektor, der natürlich nicht jeder Lehrkraft hinterherspionieren kann, aber historisch gewachsene Strukturen zu wenig hinterfragt hat. Der Staatsballettleiter, der sich für seine Nachwuchstänzer einzig nach Leistungskriterien interessiert hat und sich offenbar für pädagogische Aufgaben nicht zuständig gefühlt hat. Die Akademieleiterin, die Methoden, wie man sie aus der früheren Sowjetunion kennt, geduldet hat und nach wie vor unterrichten darf. Und, nicht zuletzt: Eltern, die ihren blinden Ehrgeiz über das leibliche und psychische Wohl ihrer Kinder stellen.
Unverständlicherweise hatte keines der Leitungsorgane bislang die Courage, von sich aus den Hut zu nehmen. Der Umbruch kommt nun auf „natürlichem Weg“, mit dem designierten neuen Staatsoperndirektor Bogdan Roščić ab 2020 und dem Abgang des alten Direktors Dominique Meyer an die Mailänder Scala. Roščić bekommt die Chance, die Ballettakademie hinsichtlich ihrer Betreuungsqualität zu einer Vorzeigeinstitution umzubauen. Dafür wird – wie die Sonderkommission festhielt – an neuem Leitungspersonal kein Weg vorbeiführen.
Aus der Verantwortung stehlen dürfen sich aber auch die künftigen Kultur- und Bildungsminister nicht. Für einen nachhaltigen Umbau der Ballettakademie müssen sie ausreichend finanzielle Mittel und Know-how zur Verfügung stellen.