Verdächtiger schon früher radikal
Verurteilter Terrorist fiel der Bewährungshilfe 2016 auf
Wien – Der Hauptverdächtige im Fall eines angeblich geplanten Terroranschlages auf den Stephansdom wurde schon 2016 von der Bewährungshilfe als radikal eingestuft. Der Verein Neustart betreute ihn bei seinem ersten Haftaufenthalt und in der Bewährung. Der Tschetschene ist wegen Terrordelikten verurteilt, er hat mehrmals versucht, sich dem IS in Syrien anzuschließen. Das Justizministerium versucht seit Jahren, mit einem Der adi kali sie rungsprogra mm gegen die Verbreitung von extremem Gedankengut in Österreichs Gefängnissen anzukämpfen. Doch der Betreuungsbedarf sei höher als die Mittel, die von der Justiz dafür zur Verfügung gestellt werden, heißt es von Gefängnisseelsorgern.
Jener Mann, der einen Anschlag auf den Wiener Stephansplatz geplant haben soll, wurde schon 2016 als radikal eingestuft. Der Bewährungshilfeverein Neustart, der den Mann in Haft und auch danach betreute, bestätigte das dem STANDARD.
Der Mann war zum ersten Mal im Oktober 2015 vom Wiener Landesgericht zu zwei Jahren unbedingter Haft verurteilt worden, weil er sich in Syrien dem„Islamischer Staat“anschließen wollte. Weil er vorzeitig entlassen wurde, wurde ihm Bewährungshilfe auferlegt, schon vor der Entlassung lief das Betreuungsverhältnis mit Neustart an.
Diese Art der Betreuung ist eine von mehreren Deradikalisierungsmaßnahmen, die das Justizministerium im Jahr 2016 vorgestellt hat. Es arbeitet dabei eng mit Vereinen zusammen, darunter Neustart und der Verein Derad. Außerdem gehen Gefängnisseelsorger der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) in Gefängnisse, um Deradikalisierungsund Präventionsarbeit zu leisten.
Im Fall Stephansplatz waren sowohl Neustart als auch Derad involviert. Der Bewährungshelfer des Hauptverdächtigen traf diesen alle 14 Tage. Ihm fiel zwar auf, dass der Mann sich als Salafist bezeichnete, abgesehen davon aber habe er sich zufriedenstellend verhalten und sei telefonisch erreichbar gewesen, es habe also keinen Grund geben, die bedingte Entlassung zu widerrufen.
Auch der auf Extremismusprävention und Deradikalisierung spezialisierte Verein Derad wurde hinzugezogen, weil der Mann, so vermerkte Neustart in einem Bericht an die Justiz, „ideologisch verfestigt sei“. Es soll zu mehreren Treffen zwischen Derad und dem Mann gekommen sein, auch eine Moschee sei besucht worden. Im Juli 2017 wurde der Wiener Justiz gemeldet, dass der Mann seine Termine ohne Angabe von Gründen nicht mehr eingehalten habe. Dies berichtete zuerst die APA; der Verein Neustart bestätigt die vorliegenden Informationen.
Schon im Frühjahr 2017 unternahm der Mann einen zweiten Versuch, sich in Syrien dem IS anzuschließen, wie aus einem Gerichtsurteil hervorgeht. Mit einem gefälschten albanischen Pass wollte er nach Istanbul reisen, wurde aber abgefangen und wieder inhaftiert. Im Herbst 2017 wurde er erneut wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Von Neustart heißt es zum STANDARD, der dortige Akt sei im April 2018 geschlossen worden. Seither war er dort nicht mehr in Betreuung von Neustart.
Mit Stichtag 1. März 2019 sind laut Angaben des Justizministeriums 59 Personen in Zusammenhang mit Terrorismusverfahren in Haft. Die Zahl der wegen Paragraf 278b Strafgesetzbuch – Teil einer terroristischen Vereinigung – verurteilten Personen steigt konstant: von null im Jahr 2013 auf 31 im Vorjahr. Das Justizministerium reagierte 2016 mit einem Deradikalisierungsprogramm: „In der diesbezüglichen Debatte werden Gefängnisse oft als ‚Brutstätten‘ für
Radikalisierung und mit Gewalt verbundenem Extremismus beschrieben“, sagte der ehemalige Justizminister Wolfgang Brandstetter (ÖVP) damals. Dem wolle man entgegenwirken.
Der Islamismusforscher Moussa Al-Hassan Diaw hat Derad mitbegründet. In 2700 Stunden Arbeit habe man zwischen 2015 und 2018 155 Klienten im justiziellen Kontext betreut, die meisten davon Männer. Es gab Abklärungsgespräche mit Personen, die im Verdacht standen, sich zu radikalisieren und mit einschlägig Verurteilten, erklärt Al-Hassan Diaw. Manche Häftlinge würden ihre gesamte Haftdauer über betreut werden. „Es geht darum, ein anderes Weltbild zu vermitteln, eine andere ideologische Überzeugung, und darum, Feindbilder abzubauen und staatsfeindlichen antidemokratischen Haltungen entgegenzutreten“, sagt Al-Hassan Diaw. Derad wird von den einzelnen Justizanstalten auf den Plan gerufen. Im Anschluss berichtet der Verein wiederum an die Justizanstalt und gibt Empfehlungen ab.
Wenig Mittel, hoher Bedarf
Kritik am aktuellen Deradikalisierungsmodell kommt von der IGGÖ – die Mittel seien knapp, der Bedarf hoch. Österreichweit betreut die Glaubensgemeinschaft etwa 2000 muslimische Haftinsassen, von 15 Seelsorgern sind 14 ehrenamtlich aktiv. Imam Džemal Šibljaković ist dort als einziger hauptberuflicher muslimischer Gefängnisseelsorger für über 500 Insassen zuständig. „Seit Jahren arbeiten wir auch mit verschiedenen Behörden und staatlichen Institutionen kontinuierlich daran, das Angebot auszuweiten. Die erste und bis heute einzige hauptberufliche Stelle wird von der IGGÖ finanziert“, sagt er.
Das Bedürfnis nach muslimischer Seelsorge sei groß, heißt es seitens der IGGÖ, die Seelsorger würden etwa auch in den Bereichen der Resozialisierung, der Suizidprävention und des interreligiösen sowie interkulturellen Dialogs etwas beitragen. Vom Justizministerium heißt es, es gebe „Aufwandsentschädigungen“für die Besuche der Religionspädagogen und Gefangenenseelsorger der IGGÖ – eine Ausweitung der Konditionen sei nicht geplant.