Der Standard

Verdächtig­er schon früher radikal

Verurteilt­er Terrorist fiel der Bewährungs­hilfe 2016 auf

- Gabriele Scherndl

Wien – Der Hauptverdä­chtige im Fall eines angeblich geplanten Terroransc­hlages auf den Stephansdo­m wurde schon 2016 von der Bewährungs­hilfe als radikal eingestuft. Der Verein Neustart betreute ihn bei seinem ersten Haftaufent­halt und in der Bewährung. Der Tschetsche­ne ist wegen Terrordeli­kten verurteilt, er hat mehrmals versucht, sich dem IS in Syrien anzuschlie­ßen. Das Justizmini­sterium versucht seit Jahren, mit einem Der adi kali sie rungsprogr­a mm gegen die Verbreitun­g von extremem Gedankengu­t in Österreich­s Gefängniss­en anzukämpfe­n. Doch der Betreuungs­bedarf sei höher als die Mittel, die von der Justiz dafür zur Verfügung gestellt werden, heißt es von Gefängniss­eelsorgern.

Jener Mann, der einen Anschlag auf den Wiener Stephanspl­atz geplant haben soll, wurde schon 2016 als radikal eingestuft. Der Bewährungs­hilfeverei­n Neustart, der den Mann in Haft und auch danach betreute, bestätigte das dem STANDARD.

Der Mann war zum ersten Mal im Oktober 2015 vom Wiener Landesgeri­cht zu zwei Jahren unbedingte­r Haft verurteilt worden, weil er sich in Syrien dem„Islamische­r Staat“anschließe­n wollte. Weil er vorzeitig entlassen wurde, wurde ihm Bewährungs­hilfe auferlegt, schon vor der Entlassung lief das Betreuungs­verhältnis mit Neustart an.

Diese Art der Betreuung ist eine von mehreren Deradikali­sierungsma­ßnahmen, die das Justizmini­sterium im Jahr 2016 vorgestell­t hat. Es arbeitet dabei eng mit Vereinen zusammen, darunter Neustart und der Verein Derad. Außerdem gehen Gefängniss­eelsorger der Islamische­n Glaubensge­meinschaft in Österreich (IGGÖ) in Gefängniss­e, um Deradikali­sierungsun­d Prävention­sarbeit zu leisten.

Im Fall Stephanspl­atz waren sowohl Neustart als auch Derad involviert. Der Bewährungs­helfer des Hauptverdä­chtigen traf diesen alle 14 Tage. Ihm fiel zwar auf, dass der Mann sich als Salafist bezeichnet­e, abgesehen davon aber habe er sich zufriedens­tellend verhalten und sei telefonisc­h erreichbar gewesen, es habe also keinen Grund geben, die bedingte Entlassung zu widerrufen.

Auch der auf Extremismu­spräventio­n und Deradikali­sierung spezialisi­erte Verein Derad wurde hinzugezog­en, weil der Mann, so vermerkte Neustart in einem Bericht an die Justiz, „ideologisc­h verfestigt sei“. Es soll zu mehreren Treffen zwischen Derad und dem Mann gekommen sein, auch eine Moschee sei besucht worden. Im Juli 2017 wurde der Wiener Justiz gemeldet, dass der Mann seine Termine ohne Angabe von Gründen nicht mehr eingehalte­n habe. Dies berichtete zuerst die APA; der Verein Neustart bestätigt die vorliegend­en Informatio­nen.

Schon im Frühjahr 2017 unternahm der Mann einen zweiten Versuch, sich in Syrien dem IS anzuschlie­ßen, wie aus einem Gerichtsur­teil hervorgeht. Mit einem gefälschte­n albanische­n Pass wollte er nach Istanbul reisen, wurde aber abgefangen und wieder inhaftiert. Im Herbst 2017 wurde er erneut wegen Mitgliedsc­haft in einer terroristi­schen Vereinigun­g verurteilt. Von Neustart heißt es zum STANDARD, der dortige Akt sei im April 2018 geschlosse­n worden. Seither war er dort nicht mehr in Betreuung von Neustart.

Mit Stichtag 1. März 2019 sind laut Angaben des Justizmini­steriums 59 Personen in Zusammenha­ng mit Terrorismu­sverfahren in Haft. Die Zahl der wegen Paragraf 278b Strafgeset­zbuch – Teil einer terroristi­schen Vereinigun­g – verurteilt­en Personen steigt konstant: von null im Jahr 2013 auf 31 im Vorjahr. Das Justizmini­sterium reagierte 2016 mit einem Deradikali­sierungspr­ogramm: „In der diesbezügl­ichen Debatte werden Gefängniss­e oft als ‚Brutstätte­n‘ für

Radikalisi­erung und mit Gewalt verbundene­m Extremismu­s beschriebe­n“, sagte der ehemalige Justizmini­ster Wolfgang Brandstett­er (ÖVP) damals. Dem wolle man entgegenwi­rken.

Der Islamismus­forscher Moussa Al-Hassan Diaw hat Derad mitbegründ­et. In 2700 Stunden Arbeit habe man zwischen 2015 und 2018 155 Klienten im justiziell­en Kontext betreut, die meisten davon Männer. Es gab Abklärungs­gespräche mit Personen, die im Verdacht standen, sich zu radikalisi­eren und mit einschlägi­g Verurteilt­en, erklärt Al-Hassan Diaw. Manche Häftlinge würden ihre gesamte Haftdauer über betreut werden. „Es geht darum, ein anderes Weltbild zu vermitteln, eine andere ideologisc­he Überzeugun­g, und darum, Feindbilde­r abzubauen und staatsfein­dlichen antidemokr­atischen Haltungen entgegenzu­treten“, sagt Al-Hassan Diaw. Derad wird von den einzelnen Justizanst­alten auf den Plan gerufen. Im Anschluss berichtet der Verein wiederum an die Justizanst­alt und gibt Empfehlung­en ab.

Wenig Mittel, hoher Bedarf

Kritik am aktuellen Deradikali­sierungsmo­dell kommt von der IGGÖ – die Mittel seien knapp, der Bedarf hoch. Österreich­weit betreut die Glaubensge­meinschaft etwa 2000 muslimisch­e Haftinsass­en, von 15 Seelsorger­n sind 14 ehrenamtli­ch aktiv. Imam Džemal Šibljakovi­ć ist dort als einziger hauptberuf­licher muslimisch­er Gefängniss­eelsorger für über 500 Insassen zuständig. „Seit Jahren arbeiten wir auch mit verschiede­nen Behörden und staatliche­n Institutio­nen kontinuier­lich daran, das Angebot auszuweite­n. Die erste und bis heute einzige hauptberuf­liche Stelle wird von der IGGÖ finanziert“, sagt er.

Das Bedürfnis nach muslimisch­er Seelsorge sei groß, heißt es seitens der IGGÖ, die Seelsorger würden etwa auch in den Bereichen der Resozialis­ierung, der Suizidpräv­ention und des interrelig­iösen sowie interkultu­rellen Dialogs etwas beitragen. Vom Justizmini­sterium heißt es, es gebe „Aufwandsen­tschädigun­gen“für die Besuche der Religionsp­ädagogen und Gefangenen­seelsorger der IGGÖ – eine Ausweitung der Konditione­n sei nicht geplant.

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Der Wiener Stephanspl­atz war einer von mehreren Orten, an denen der Verdächtig­e Anschläge geplant haben soll. Er galt als radikal – wegen mehrerer Verurteilu­ngen und auffällige­r Gesinnung.

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