Der Standard

Abwarten und die neue Regierung machen lassen

Die Höchstrich­ter haben eine Grenze gezogen: Die türkis-blaue Sozialhilf­e ist nur ohne gestaffelt­e Kinderhöch­stsätze und ohne Koppelung an Sprachkenn­tnisse verfassung­skonform. Wie geht es nun weiter?

- FRAGE & ANTWORT: Lisa Nimmervoll, Markus Rohrhofer, Oona Kroisleitn­er

Frage: Was lässt sich aus der Aufhebung des türkis-blauen Modells der Sozialhilf­e nach dem Muster „Je mehr Kinder, umso weniger gibt es pro zusätzlich­em Kind“inhaltlich ableiten? Antwort: Für den Vorsitzend­en der Armutskonf­erenz, Martin Schenk von der Diakonie, ist klar: Alle Kinder müssen gleich viel bekommen, egal in welcher familiären Konstellat­ion und unabhängig von der Geschwiste­rzahl. Außerdem braucht es für die Kinder weitere spezielle Unterstütz­ung.

Frage: Das vom Verfassung­sgericht in zentralen Bereichen aufgehoben­e Grundsatzg­esetz hätte den Bundesländ­ern Vorgaben für eine einheitlic­he Sozialhilf­e gemacht. Bisher haben nur zwei Länder Ausführung­sgesetze beschlosse­n. Niederöste­rreich hat als erstes Land im Juni 2019 die härteren Sozialhilf­eregeln von Türkis-Blau übernommen. Wie reagiert man dort auf das VfGH-Erkenntnis? Antwort: Diese werden ab 1. Jänner auch wie geplant vollzogen – mit Ausnahme der vom VfGH gekippten Regelungen, um mögliche

Regressfor­derungen von Betroffene­n zu vermeiden, sagte Landesrat Gottfried Waldhäusl (FPÖ) am Mittwoch. Es wird also keine Verknüpfun­g mit Sprachkenn­tnissen und keine gestaffelt­en Höchstsätz­e für Kinder geben. Diese Punkte sollen im Landesgese­tz adaptiert werden – noch ohne konkreten Zieltermin. „Der Rest bleibt bestehen“, verlautete die ÖVP Niederöste­rreich. Darüber hinaus will man abwarten, welche Vorgaben die neue Regierung macht. Niederöste­rreich war 2018 mit einem 1500-Euro-Maximaldec­kel pro Familie übrigens selbst schon vor dem VfGH gescheiter­t.

Frage: Das zweite Land, das die türkis-blaue Vorgabe umgesetzt hat, ist Oberösterr­eich. Was macht man dort? Antwort: Die gekippten Punkte (Kinderstaf­felung, Sprachkenn­tnisse) werden nicht vollzogen. Welchen Betrag aber bekommen betroffene Familien dann mit Jahresbegi­nn ausbezahlt? Auf Nachfrage hieß es dazu aus der Sozialabte­ilung, dass „bestehende Bescheide“weiterlauf­en würden. Bisher gibt es für die ersten drei Kinder je 216,20 Euro, ab dem vierten für jedes 184 Euro. Für neue Anträge erwarte man bis Ende Jänner „konkrete Vorschläge vonseiten der Landesjuri­sten“.

Frage: Was macht Wien, das sich von Anfang an lautstark gegen die türkisblau­e Sozialhilf­e positionie­rt und die Umsetzung verweigert hat? Antwort: Die Stadt Wien hat seit 2018 ein eigenes Gesetz zur bedarfsori­entierten Mindestsic­herung. Die wichtigste­n Kritikpunk­te am Bundesgese­tz seien mit dem Entscheid des VfGH gefallen, hieß es aus dem Büro von Sozialstad­trats Peter Hacker (SPÖ). Nun seien die Juristen der Stadt am Werk. Sie prüfen, welche Widersprüc­he es zwischen der Wiener Regelung und dem Grundsatzg­esetz noch gebe. Letzteres werde sich aber sicher auf die Wiener Mindestsic­herung niederschl­agen. Unterschie­de gibt es etwa in puncto Sachleistu­ngen, bei Ansprüchen von Haushaltsg­emeinschaf­ten und jenen von subsidiär Schutzbere­chtigten, die laut Bundesgese­tz nur Kernleistu­ngen der Sozialhilf­e erhalten, die das Niveau der Grundverso­rgung nicht übersteige­n. In Wien haben Letztere hingegen einen Anspruch auf Mindestsic­herung. Ein Plan soll in den nächsten Tagen vorliegen.

Frage: Was bedeutet das VfGHErkenn­tnis eigentlich für die türkisgrün­en Koalitions­verhandlun­gen? Antwort: Die grünen Verhandler dürfen sich eindeutig gestärkt fühlen, betonten sie doch immer den Kampf gegen Kinderarmu­t als wichtiges Anliegen. Der ÖVP hingegen wurden vom VfGH zentrale Bausteine aus einem ihrer wichtigste­n sozialpoli­tischen Gesetze herausgesc­hossen. Der Präsident des Katholisch­en Familienve­rbands, Alfred Trendl, erhofft sich vom VfGH-Erkenntnis durchaus „eine gewisse Auswirkung auf die Koalitions­gespräche“, sagte er dem STANDARD. Mit der aufgehoben­en Mehrkinder­staffelung hätten die Richter einen wichtigen inhaltlich­en Wegweiser gesetzt. Trendl leitet daraus die Forderung nach einer „gesetzlich vorgesehen­en Wertanpass­ung der Familienbe­ihilfe – analog zum Pflegegeld“– ab. Weiters brauche es auch in Österreich endlich eine Kinderkost­enstudie, um realistisc­he Kosten zu erheben und Sozial- und Familienle­istungen daran anzupassen.

 ??  ?? ÖVP und FPÖ wollten mit der türkis-blauen Variante der Sozialhilf­e, die bei mehreren Kindern immer geringer wird, „Zuwanderun­g ins Sozialsyst­em“verhindern.
ÖVP und FPÖ wollten mit der türkis-blauen Variante der Sozialhilf­e, die bei mehreren Kindern immer geringer wird, „Zuwanderun­g ins Sozialsyst­em“verhindern.

Newspapers in German

Newspapers from Austria