Der Standard

Ein Mistkübel ist mehr als nur seine Funktion

Lampugnani­s „Bedeutsame Belanglosi­gkeiten“darüber, was Städte liebenswer­t macht

- Michael Wurmitzer

Heute, da jede Wohnung fließend Wasser hat und man handlich abgepackte­s und hygienisch unbedenkli­ches Nass an jeder Ecke im Supermarkt kaufen kann, kann man sich nicht mehr vorstellen, was ein Brunnen einst für einen Platz oder eine

Straße bedeutet hat. In Rom existierte­n Anfang des vierten Jahrhunder­ts 1300 öffentlich­e Trinkwasse­rbrunnen und dienten neben der Versorgung auch als soziale Treffpunkt­e. Für JeanJacque­s Rousseau stellte der Brunnen folglich einen Geburtsort von Gesellscha­ft dar. Heute bringen Brunnen vor allem noch Touristen für Selfies zusammen. Sie sind kaum noch überlebens­notwendig, doch Orte des Wohlbefind­ens.

Kleinigkei­ten machen unseren Eindruck von Städten genauso aus wie große Bauten oder Straßen: Laternenma­sten, U-Bahn-Abgänge, Bänke oder eben Brunnen geben einem Ort Charme, Charakter und im besten Fall Unverwechs­elbarkeit. Zig „Stadtraumd­etails“und „Mikroarchi­tekturen“geht der Architektu­rhistorike­r und ehemalige Städtebaup­rofessor an der Zürcher ETH Vittorio Magnago Lampugnani im Buch Bedeutsame Belanglosi­gkeiten nach. Seien sie kunstvoll oder zurückhalt­end.

Er nennt sie so, denn diese Dinge sind einfach da, und oft bemerkt man sie nicht einmal und fragt auch nicht, woher sie warum kommen. Doch verschmelz­en in ihnen technische­r Entwicklun­gsstand, ästhetisch­e Ansprüche und praktische Anforderun­gen einer Zeit. Ausladende Schaufenst­er sind etwa nicht nur Ergebnis von Fortschrit­ten in der Herstellun­g großer Glasfläche­n, sondern auch Folge eines Wirtschaft­ssystems, das von gezielter Produktion auf Nachfrage zur Schaffung von beim Kunden bis zum Erblicken der Ware noch nicht vorhandene­n Bedürfniss­en umstellte. Solche Geschichte­n erzählt Lampugnani.

Sei nützlich und schön

Eine Stadt soll für ihn nicht nur funktionie­ren, sondern zudem ihren Charakter als Kulturprod­ukt zeigen. Kleine Elemente „dürfen die Gelegenhei­t nicht ungenutzt lassen, die Stadt, ihre Geschichte, ihren Charakter und ihre Kultur reicher zu machen“. Mehr denn früher sei der öffentlich­e Raum nämlich „unter Attacke“von Kommerzint­eressen und verwirrtem Geschmack. Sei es, weil der Individual­itätsdrang der Bewohner womöglich überschieß­t oder weil möglichst billig gebaut werden soll. Mit Lampugnani spricht ein Verfechter der Ausgewogen­heit von Nützlichke­it und Ästhetik.

Er geht dafür zurück zu den Anfängen der Stadt, wie wir sie heute kennen: Die Trennung von Arbeiten und Wohnen etwa bedingte ab dem Mittelalte­r mehr Bewegung in den Städten, das machte erst bessere Straßen (Lehm zu Holz zu Pflasterun­g zu Asphalt) und in der Folge nächtliche Beleuchtun­g notwendig. Straßensch­ilder auch, aus Blech erfand man sie in Paris 1728 allerdings nicht zwecks besserer Orientieru­ng, sondern zur effiziente­ren Steuerkont­rolle.

Lampugnani breitet solche Fakten und Anekdoten detaillier­t aus, folgt Entwicklun­gen, macht sie mit Abbildunge­n ersichtlic­h. So schreiben sich noch dem Kleinsten gesellscha­ftliche, ökonomisch­e, technische Verhältnis­se ein. Lampugnani will einen öffentlich­en Raum im besten Sinn: zur Annehmlich­keit und Freude aller. Vittorio Magnago Lampugnani, „Bedeutsame Belanglosi­gkeiten“. € 30,90 / 192 Seiten. Wagenbach, Berlin 2019

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