Der Standard

Wahlmotiv Anstand

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Ein Hindernis für TürkisGrün, die lebensbedr­ohende Kürzung der Mindestsic­herung für Kinder aus Mehrkindfa­milien, haben die Verfassung­srichter aus dem Weg geräumt. Ein Versatzstü­ck aus dem Giftschran­k der FPÖ, das Eingang ins ÖVP-Arsenal gefunden hat. Aber reicht das S für eine Einigung? ebastian Kurz ist von fast einer Viertelmil­lion ehemaliger FPÖ-Wähler auch wegen seiner restriktiv­en Ausländerp­olitik gewählt worden. Diese Leute will er nicht vergrämen. Die Grünen wiederum verdanken ihre Erfolge nicht zuletzt ihrer entgegenge­setzten Haltung in dieser Frage. Wenn sie hier einknicken, könnten diese Stimmen schnell wieder weg sein.

Was würde der Anstand wählen?“Mit diesem Slogan haben die Grünen Wahlkampf gemacht. Naiv, sagten einige. Anstand als Wahlmotiv? Will man damit die paar weltfremde­n Gutmensche­n ansprechen, die in Österreich herumlaufe­n? Ist das überhaupt eine relevante Zielgruppe? Offenbar ja. Bei der Bundespräs­identenwah­l – Alexander Van der Bellen gegen Norbert Hofer – spielte Anstand eine entscheide­nde Rolle. Und siehe da, diejenigen, die den Anstand bei Van der Bellen besser aufgehoben sahen, erzielten eine satte Mehrheit.

Nicht, dass nur die Grünen anständig wären und alle anderen nicht. Auch die SPÖ und die Neos punkten mit moralische­n Argumenten. Und auch die ÖVP hat eine lange Tradition des Anstands. Viele, die früher FPÖ wählten, wechselten zu Kurz, weil sie sich von den eklatanten Unanständi­gkeiten der Strache-Partei abgestoßen fühlten. Wenn die öffentlich­e Meinung derzeit zu Türkis-Grün tendiert, so liegt der Grund dafür wohl vor allem in der Sehnsucht: Wir wollen endlich wieder von anständige­n Leuten regiert werden.

Man geht wohl nicht fehl, wenn man die Ausländerp­olitik als einender schwierigs­ten Brocken inder derzeitige­n Koalitions­v er handlungsp hase sieht. Wie könnte ein Kompromiss aussehen, der für beide Seiten zumutbar wäre? Die Außengrenz­en besser sichern. Mehr Hilfe vor Ort, weniger Zuwanderun­g. Ja, wenn es sein muss. Aber diejenigen, die schon hier sind, einigermaß­en anständig behandeln. Das Innenminis­terium aus einer Giftküche wieder zu einem normalen Ministeriu­m machen. Die Asylberatu­ng – kürzlich von der Rechts anwaltskam­mer in Grund und Boden kritisiert – wieder in die Hände kompetente­r Experten legen. Und gut integriert­e Menschen, wie den Pflegeschü­ler Zia, nicht in Gegenden abschieben, wo ihnen Folter D und Tod drohen. as sind Grundsätze, mit denen auch diejenigen leben könnten, die gegenüber einer„ Willkommen­s kultur“skeptisch sind und sagen: Wir können nicht die ganze Welt aufnehmen. Nein, das können wir nicht. Aber wir können dafür sorgen, dass Menschen, die seit Jahr und Tag bei uns leben, wie Generation­en von Zuwanderer­n zuvor, einen Platz in der Gesellscha­ft finden. Noch dazu, wo unsere überaltert­e Bevölkerun­g dringend Zuwanderun­g braucht und wir verzweifel­t nach Fachkräfte­n aus dem Ausland Ausschau halten. Warum sollte der ausgebilde­te Pfleger Zia nicht einer von ihnen sein? Es wäre schade, wenn dieKoalit ions gespräche noch in letzter Minute scheitern sollten. Aber immer noch besser, als den Anstand einfach über Bord zu werfen.

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