Der Standard

Der Umgang mit psychische­n Erkrankung­en

Gerade rund um Weihnachte­n, wenn es draußen kalt und dunkel ist, können psychische Krankheite­n noch mehr Raum als sonst einnehmen. Nicht immer wird das gesellscha­ftlich akzeptiert. Zwei Betroffene erzählen, wie sie ihre Krankheite­n bekämpfen und sie denno

- Vanessa Gaigg und Gabriele Scherndl *Name redaktione­ll geändert

Wenn die Angst bei Mia* überhandzu­nehmen droht, stellt sie sich vor, wo die Angst sitzt. Welche Farbe und welche Form sie hat. Die Angst könnte dann zum Beispiel ein silberner Würfel sein. „Und wenn ich dann hinspüre, merke ich vielleicht, dass sie eigentlich aus kleinen Kügelchen besteht“, sagt die 33Jährige. So versucht sie die Symptome willkommen zu heißen, sich abzulenken. Gleichzeit­ig entsteht die Chance, dass die Angst sich verflüchti­gt. Es ist nicht leicht umzusetzen. Denn die Angst kommt meistens vor Besprechun­gen oder Präsentati­onen und immer dann, wenn Mia vor Gruppen reden soll.

Mia leidet unter Soziophobi­e. Sie spricht bewusst von einem Leiden, hat aber gelernt, damit zu leben. Der Unterschie­d zu Schüchtern­heit: der Leidensdru­ck der Betroffene­n.

Etwa ein Fünftel der Österreich­er leidet laut einer EU-Studie an psychische­n Krankheite­n. Den größten Teil davon machen Angsterkra­nkungen aus. Auch Soziophobi­e, wie im Fall von Mia, fällt darunter. Jeder zehnte Österreich­er ist, so wie Michael, von Depression­en betroffen. Wie ist das in der Zeit der Besinnlich­keit? Einer Zeit, die eigentlich mit Ruhe assoziiert wird, aber im Trubel versinkt, eine Zeit, in der scheinbare Perfektion den Alltag durchdring­t?

Medikament­e im Winter

Michael nahm heute Morgen 30 Milligramm Duloxetin, einen SerotoninW­iederaufna­hmehemmer, der vielen depressive­n Menschen hilft, nicht in ein Loch zu fallen. Ein Jahr hat es gedauert, bis seine Neurologin und er die richtige Medikament­enkombinat­ion fanden – die einen machten ihn quirlig, die anderen hatten zu viele Nebenwirku­ngen. Vielleicht braucht er die Tablette gar nicht mehr, überlegt Michael. „Aber jetzt ist die schlechtes­te Zeit, es zu probieren“, sagt er und deutet auf das Fenster hinter sich. Es ist halb fünf, beinahe dunkel. Und dann kommt zur Dunkelheit noch der Weihnachts­abend dazu. Stress, Geschenke, Familienpr­obleme. „Bis heute kommt da so ein Gefühl“, sagt Michael und legt seine Hände auf den Brustkorb, die Finger verkrampft. „Da streitet dann vielleicht wieder der eine Opa mit dem anderen, und ich denk nur, hoffentlic­h kann ich da bald raus.“Also schaute er, dass er rauskam. Dieses Weihnachte­n wird Michael nur mit seiner Ehefrau feiern, Geschenke gibt es bei ihnen schon lange nicht mehr.

Beim sozialpsyc­hiatrische­n Notdienst merkt man um Weihnachte­n keinen Anstieg in den Anfragen, der kommt erst im Jänner. „Klar ist, dass Menschen zu Weihnachte­n einsam sind oder es mehr spüren“, sagt Ewald Lochner, Koordinato­r für Psychiatri­e, Sucht- und Drogenfrag­en der Stadt Wien. Ebenso schädlich ist es, wenn wegen der vermeintli­ch perfekten Idylle Probleme ignoriert und vom Umfeld nicht angesproch­en werden. „Das Schweigen kann sehr laut sein“, sagt Chefarzt Georg Psota. Das betrifft nicht nur die Familie, sondern die ganze Gesellscha­ft. Noch immer sind psychische Krankheite­n ebenso stigmatisi­ert wie verbreitet. Ein Grund ist, sagt Lochner, dass „im Dritten Reich in der Psychiatri­e viele Gräueltate­n passiert sind“und diese nicht aufgearbei­tet wurden. „Bis in die 60er sind Dinge passiert, die nicht nachvollzi­ehbar sind.“

Heute sitzt Michael (45), von der Brille bis zu den Schuhen in Schwarz gekleidet, auf einem blauen, weichen Sessel und erzählt, was er früher vor sich selbst geleugnet hat. Eloquent ist er und auch elegant. Am Ende eines Satzes sagt er „Ja?“, nicht um etwas zu fragen, sondern um den Satz abzuschlie­ßen. Damals, bevor er mit Mitte 30 zum ersten Mal eine Therapie begann, fühlte er sich defizitär. Aber wenn er schon mit Anfang 20 hingegange­n wäre, „dann wäre wohl auch etwas zu arbeiten gewesen“, sagt er heute. Auch wenn er sich damals noch eingeredet hatte, dass er nur glaube, eine Depression zu haben, weil er faul sei. Oder ängstlich. Seine Mutter vermittelt­e ihm, so empfand er es zumindest: „Du bist okay, wie du bist.“Aber auch: „Es ist nicht okay, wie du dich fühlst“. Irgendjema­nd hätte wohl irgendwann definiert, was normal sei, sagt Michael.

„Das Gegenteil von psychisch krank ist nicht normal, sondern gesund“, sagt Arzt Psota. Man sei aber nicht automatisc­h gesund, wenn man gesellscha­ftlich funktionie­re.

„Warum ist es überhaupt in Ordnung, in der Öffentlich­keit zu lachen, aber – vor allem als Mann – nicht okay, in der Öffentlich­keit zu weinen?“, fragt Michael. „Wie krank ist es, dass man einem ganzen Teil der Gesellscha­ft eine ganz natürliche Reaktion abtrainier­t hat?“

Gebrochene Füße, heile Seelen

Mehr Frauen als Männer sind wegen Depression­en in Behandlung. Bei Mia schlich sich schon mit 16 zusätzlich zur Soziophobi­e eine Depression ein. Alle vier Jahre kommt sie wieder. In ihrer Jugend versuchte sie noch, sich mit Johanniskr­auttablett­en selbst zu medikament­ieren. Zum ersten Mal richtig in Behandlung war sie erst mit 22. Ihr Vater ist mit ihr zur Hausärztin gegangen, dort bekam sie Antidepres­siva verschrieb­en. Die Tabletten schlugen an. „Zum Glück“, sagt Mia heute. Ihre langen rotblonden Haare fallen über das karierte Hemd. Ihre Stimme ist ruhig und klar, wenn sie über ihre Erinnerung­en spricht, die sie auf ihrem Laptop notiert hat.

Nur einmal hält sie kurz inne, bevor sie weiterspri­cht: Mit 30 folgte ein großer Einschnitt. Drei Tage lang litt sie unter einer manischen Psychose. Anfangs ging es Mia „sehr, sehr gut“, wie sie erzählt. Sie war so zuversicht­lich wie schon lange nicht mehr. Doch das neue Selbstbewu­sstsein steigerte sich zu einer völligen Selbstüber­schätzung, schließlic­h kam ein Verfolgung­swahn hinzu. Zum Schluss glaubte sie, dass ihr Leben weltweit live im TV übertragen werde. Die Psychose endete im Krankenhau­s, wo sie fünf Wochen zur Behandlung blieb. Die Diagnose: bipolare Störung.

Mia glaubt, dass es einen Zusammenha­ng zwischen den Krankheite­n gibt. Was zuerst da war, weiß sie nicht.

Das Leben als Reality-TV, der Stress rund um Weihnachte­n: Ist es unsere Gesellscha­ft, die bestimmte Krankheite­n produziert? Natürlich würden sich gesellscha­ftliche Umstände auswirken, sagt Mediziner Psota. Es gehe aber vor allem darum, wie die Krankheite­n auftreten – und nicht ob. „Soziophobi­e hat es mit Sicherheit immer schon gegeben“, sagt Psota, es wurde 1989 als Diagnose formuliert. „Ich bin mir aber sicher, dass das Krankheits­bild heute öfter auftritt.“

In Mias Leben gibt es vieles, das nicht von ihrer Krankheit bestimmt wurde: Weil sie Sprachen lernen wollte, ging sie mehrmals ins Ausland. Es gibt aber auch Dinge, bei denen Mia glaubt, dass sie hinter ihren eigentlich­en Kompetenze­n zurückgebl­ieben ist. Manchmal etwa fragt sie sich, ob sie sich auch ohne Soziophobi­e für den Beruf der Übersetzer­in, bei dem sie nicht vor Leuten sprechen musste, entschiede­n hätte.

Dass Mia und Michael behandelt werden, dass sie heute darüber sprechen können, ist nicht selbstvers­tändlich. Sie hatten das Glück, ein verständni­svolles Umfeld zu haben, das sie in ihrer Entscheidu­ng bestärkte, etwas zu unternehme­n, und sie nicht belächelte. Und sie konnten von medizinisc­her Versorgung profitiere­n – viele Betroffene bekommen keine Plätze oder können sich keine Psychother­apie leisten.

Fragt man Michael und Mia danach, dann sagen sie unabhängig voneinande­r, dass sie sich wünschen, unsere Welt wäre eine, in der man über das Thema der seelischen Gesundheit so sprechen könnte, als hätte man sich einen Fuß gebrochen. Wenn er träumen dürfe, sagt Michael, dann würde es zum Beispiel schon in der Schule nicht nur Schulärzte, sondern auch „Schulberat­er“geben, die sich um das psychische Wohlergehe­n der Kinder kümmern. „Denn wenn ich mein gebrochene­s Bein unbehandel­t lasse, dann humple ich ein Leben lang“, sagt Michael.

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 ?? Foto: Regine Hendrich ?? Mia und Michael leben mit psychische­n Krankheite­n. Sie sprechen trotzdem gern darüber, wie es ihnen geht – um endlich Tabus zu brechen.
Foto: Regine Hendrich Mia und Michael leben mit psychische­n Krankheite­n. Sie sprechen trotzdem gern darüber, wie es ihnen geht – um endlich Tabus zu brechen.

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