Aufschrei für den polnischen Rechtsstaat
Erneut wurde in Warschau und vielen anderen Städten Polens demonstriert. Diesmal ging es gegen den vorerst letzten Streich der Justizreform, der für Kritiker einem Maulkorb für Richter gleichkommt.
Die Trillerpfeifen und Sprechchöre sind schon vom Warschauer Dreikreuzeplatz zu hören. Vor dem Sejm, dem polnischen Abgeordnetenhaus, sind eine Bühne und eine große Videoleinwand aufgebaut. „Heute die Richter, und morgen du“– mit diesem Slogan rief das Komitee zur Verteidigung der Demokratie (KOD) zur Großdemonstration gegen Polens regierende Nationalpopulisten auf.
Hunderttausende Bürgerinnen und Bürger folgten am Mittwochabend dem Aufruf. In rund 200 polnischen Städten demonstrierten aufgebrachte Menschen vor den Gerichten. „Erst langsam verstehen wir, dass wir die Richter verteidigen müssen, wenn wir uns verteidigen wollen“, ruft Star-Regisseurin Agnieszka Holland der Menge in Warschau zu. „Wenn die Richter erst ihre Unabhängigkeit verloren haben, dann verlieren auch wir unsere Freiheit. Vor Gericht
werden wir im Streit mit dem Staat keine Chance mehr haben.“
Die Menge skandiert im Dunklen „Hańba!“– Schande! – und drängt näher zur Bühne. Wer neben dem hell angestrahlten Obelisken für die Heimatarmee steht, die im Zweiten Weltkrieg gegen die deutschen Besatzer kämpfte, kann zwar von den „traurigen Herren“, wie die Agenten des polnischen Geheimdiensts im Volksmund genannt werden, gut gefilmt werden, sieht aber selbst kaum, was auf der Bühne abgeht.
Ein „schwerer Tag“
Als Richter Igor Tuleya das Mikrofon in die Hand nimmt, wird es so still, dass man nur noch die leisen Klänge eines Weihnachtsliedes hört, das zum Sejm herüberwabert. Tuleya, der seit Beginn des Justiz-Umbaus durch die nationalpopulistische Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) im Jahre 2016 immer wieder das Wort erwerden griffen hat, um die Rechtsstaatlichkeit in Polen zu verteidigen, wirkt an diesem Abend niedergeschlagen. „Heute erleben wir einen schweren Tag“, klagt er. Wieder einmal stünden die freien Gerichte zur Disposition. „Ich kann euch nicht versprechen, dass wir diese Schlacht gewinnen werden, aber wir Richter – wir sind rund 10.000 – werden bis zum Schluss kämpfen.“
Tuleya steht hager und leicht gebeugt vor dem silbern leuchtenden Schriftzug „Konstytucja“– Verfassung – und stockt immer wieder. Das Reden fällt ihm dieses Mal schwer. „Am Ende wird das Gute über das Schlechte triumphieren“, setzt er neu an, und die Menge skandiert: „Wir werden siegen!“Doch er winkt ab und bitte um Ruhe: „Man bewirft uns nicht nur mit Dreck, sondern gipst uns auch den Mund zu, setzt uns auf die Anklagebank, und wenn das neue Gesetz durchkommt, wir auch im Gefängnis landen.“Die Demonstranten werden unruhig. Weiß Tuleya möglicherweise mehr als sie?
Ein älterer Mann verteilt Kopien des „Richter-Repressionsgesetzes“, mit dem die PiS die polnischen Richter auf Linie bringen will. Vor einigen Tagen erst hatte das Oberste Gericht in Polen das Urteil des Europäischen Gerichtshofes in Luxemburg umgesetzt und seinerseits sowohl die Legitimität der neuen Disziplinarkammer als auch des Neo-Landesjustizrates bestritten.
Sorge um Gewaltenteilung
Der Landesjustizrat war bisher ein unabhängiges Richtergremium, das über Richterberufungen oder -versetzungen entschied. Der an seine Stelle getretene NeoLandesjustizrat wird vom Parlament (also von der PiS) gewählt und ist damit von der Legislative abhängig. Nach Ansicht des
Obersten Gerichts verletzt er damit das Prinzip der Gewaltenteilung, die in Polens Verfassung wie in den EU-Verträgen festgelegt ist.
Doch weder die PiS-Regierung noch das PiS-beherrschte Abgeordnetenhaus denken auch nur daran, das Urteil des Obersten Gerichts umzusetzen. Vielmehr soll mit dem neuen Gesetz allen Richtern in Polen verboten werden, sich politisch zu betätigen und die Legitimität von Richterkollegen infrage zu stellen. Die Disziplinarstrafen sehen Degradierungen, Versetzungen, Einkommenseinbußen und Berufsverbot vor. Die PiS will das Regelwerk noch vor Weihnachten durch das Parlament bringen.
„Wenn es uns einmal nicht mehr geben sollte, erzählt euren Kindern, dass es in Polen einmal freie Gerichte gab“, sagt Tuleya am Mittwochabend in Warschau. „Man kann alles wieder aufbauen – auch unabhängige Gerichte.“