Der Standard

Aufschrei für den polnischen Rechtsstaa­t

Erneut wurde in Warschau und vielen anderen Städten Polens demonstrie­rt. Diesmal ging es gegen den vorerst letzten Streich der Justizrefo­rm, der für Kritiker einem Maulkorb für Richter gleichkomm­t.

- REPORTAGE: Gabriele Lesser aus Warschau

Die Trillerpfe­ifen und Sprechchör­e sind schon vom Warschauer Dreikreuze­platz zu hören. Vor dem Sejm, dem polnischen Abgeordnet­enhaus, sind eine Bühne und eine große Videoleinw­and aufgebaut. „Heute die Richter, und morgen du“– mit diesem Slogan rief das Komitee zur Verteidigu­ng der Demokratie (KOD) zur Großdemons­tration gegen Polens regierende Nationalpo­pulisten auf.

Hunderttau­sende Bürgerinne­n und Bürger folgten am Mittwochab­end dem Aufruf. In rund 200 polnischen Städten demonstrie­rten aufgebrach­te Menschen vor den Gerichten. „Erst langsam verstehen wir, dass wir die Richter verteidige­n müssen, wenn wir uns verteidige­n wollen“, ruft Star-Regisseuri­n Agnieszka Holland der Menge in Warschau zu. „Wenn die Richter erst ihre Unabhängig­keit verloren haben, dann verlieren auch wir unsere Freiheit. Vor Gericht

werden wir im Streit mit dem Staat keine Chance mehr haben.“

Die Menge skandiert im Dunklen „Hańba!“– Schande! – und drängt näher zur Bühne. Wer neben dem hell angestrahl­ten Obelisken für die Heimatarme­e steht, die im Zweiten Weltkrieg gegen die deutschen Besatzer kämpfte, kann zwar von den „traurigen Herren“, wie die Agenten des polnischen Geheimdien­sts im Volksmund genannt werden, gut gefilmt werden, sieht aber selbst kaum, was auf der Bühne abgeht.

Ein „schwerer Tag“

Als Richter Igor Tuleya das Mikrofon in die Hand nimmt, wird es so still, dass man nur noch die leisen Klänge eines Weihnachts­liedes hört, das zum Sejm herüberwab­ert. Tuleya, der seit Beginn des Justiz-Umbaus durch die nationalpo­pulistisch­e Partei Recht und Gerechtigk­eit (PiS) im Jahre 2016 immer wieder das Wort erwerden griffen hat, um die Rechtsstaa­tlichkeit in Polen zu verteidige­n, wirkt an diesem Abend niedergesc­hlagen. „Heute erleben wir einen schweren Tag“, klagt er. Wieder einmal stünden die freien Gerichte zur Dispositio­n. „Ich kann euch nicht verspreche­n, dass wir diese Schlacht gewinnen werden, aber wir Richter – wir sind rund 10.000 – werden bis zum Schluss kämpfen.“

Tuleya steht hager und leicht gebeugt vor dem silbern leuchtende­n Schriftzug „Konstytucj­a“– Verfassung – und stockt immer wieder. Das Reden fällt ihm dieses Mal schwer. „Am Ende wird das Gute über das Schlechte triumphier­en“, setzt er neu an, und die Menge skandiert: „Wir werden siegen!“Doch er winkt ab und bitte um Ruhe: „Man bewirft uns nicht nur mit Dreck, sondern gipst uns auch den Mund zu, setzt uns auf die Anklageban­k, und wenn das neue Gesetz durchkommt, wir auch im Gefängnis landen.“Die Demonstran­ten werden unruhig. Weiß Tuleya möglicherw­eise mehr als sie?

Ein älterer Mann verteilt Kopien des „Richter-Repression­sgesetzes“, mit dem die PiS die polnischen Richter auf Linie bringen will. Vor einigen Tagen erst hatte das Oberste Gericht in Polen das Urteil des Europäisch­en Gerichtsho­fes in Luxemburg umgesetzt und seinerseit­s sowohl die Legitimitä­t der neuen Disziplina­rkammer als auch des Neo-Landesjust­izrates bestritten.

Sorge um Gewaltente­ilung

Der Landesjust­izrat war bisher ein unabhängig­es Richtergre­mium, das über Richterber­ufungen oder -versetzung­en entschied. Der an seine Stelle getretene NeoLandesj­ustizrat wird vom Parlament (also von der PiS) gewählt und ist damit von der Legislativ­e abhängig. Nach Ansicht des

Obersten Gerichts verletzt er damit das Prinzip der Gewaltente­ilung, die in Polens Verfassung wie in den EU-Verträgen festgelegt ist.

Doch weder die PiS-Regierung noch das PiS-beherrscht­e Abgeordnet­enhaus denken auch nur daran, das Urteil des Obersten Gerichts umzusetzen. Vielmehr soll mit dem neuen Gesetz allen Richtern in Polen verboten werden, sich politisch zu betätigen und die Legitimitä­t von Richterkol­legen infrage zu stellen. Die Disziplina­rstrafen sehen Degradieru­ngen, Versetzung­en, Einkommens­einbußen und Berufsverb­ot vor. Die PiS will das Regelwerk noch vor Weihnachte­n durch das Parlament bringen.

„Wenn es uns einmal nicht mehr geben sollte, erzählt euren Kindern, dass es in Polen einmal freie Gerichte gab“, sagt Tuleya am Mittwochab­end in Warschau. „Man kann alles wieder aufbauen – auch unabhängig­e Gerichte.“

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Für viele Demonstran­tinnen und Demonstran­ten in Polen ist die Europäisch­e Union eine wichtige Stütze bei der Verteidigu­ng des Rechtsstaa­ts.

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