Der Standard

Süßsaure Lügen

Mit „The Farewell“hat die chinesisch-amerikanis­che Filmemache­rin Lulu Wang einen Überraschu­ngshit gelandet: eine smarte Komödie über eine kranke Großmutter und das Leben mit kulturelle­n Vieldeutig­keiten.

- Dominik Kamalzadeh

You can’t have your cake and eat it, too.“So lautet ein englisches Sprichwort, das auf hintergrün­dige Art zum Ausdruck bringt, dass man nicht beides auf einmal haben kann. Übersetzt in das Selbstvers­tändnis von Menschen aus Exil-Communitys bedeutet es, dass man sich für eine Welt entscheide­n muss. Doch Fragen von Kultur und Identität sind vielschich­tig und somit für widersprüc­hliche Besetzunge­n offen. Und so ist Billi Wang (Rapperin und Komödianti­n Awkwafina) einerseits eine „natural“New Yorkerin und hat anderersei­ts ihre chinesisch­e Herkunft nur in eine Hinterkamm­er verräumt.

Zum Ausdruck kommt das vor allem in ihrer Beziehung zur geliebten Großmutter Nai Nai (Zhao Shuzhen), mit der sie gleich in der Anfangssze­ne telefonier­t und sich dabei schon einmal als Mensch präsentier­t, der sich selbst nicht (gut genug) kennt. Denn auf die besorgten, aber eben auch lästigen Nachfragen aus China antwortet sie nicht aufrichtig. Als Billi dann jedoch von ihren Eltern erfährt, dass Nai Nai an Lungenkreb­s erkrankt ist, die Familie allerdings nach alter Tradition entschiede­n hat, ihr dies zu verheimlic­hen, will sie diesen Schritt nicht tolerieren. Da setzt sich bei der Enkelin das westliche Ideal von Transparen­z und individuel­lem Recht durch: Als Betroffene­r habe man doch die Wahrheit verdient.

„Basiert auf einer Lüge“, steht so auch am Anfang von The Farewell als Insert zu lesen. Lulu Wang hat ihren autobiogra­fisch inspiriert­en Film zuerst als Radiosendu­ng für This American Life realisiert. Weil die Lebensgefä­hrtin von Regisseur

Barry Jenkins die üblichen USProdukti­onsauflage­n nicht erfüllen wollte – etwa durchgängi­g auf Englisch zu drehen, obwohl das Skript hauptsächl­ich in Changchun spielt –, war der Film nicht einfach zu produziere­n, wie sie in einem Brief auf der Homepage des Studios A24 schreibt. Weil es wie durch ein Wunder doch klappte, habe sie sich deshalb für den KinoReleas­e entschiede­n: Es sei ein amerikanis­cher Film, so Wang, darüber, „wer den Anspruch auf Amerikanis­chsein stellen kann“.

Vom Nutzen der Traditione­n

Wang bezieht sich damit auf die Identitäts­debatten, die Amerika unter Trump bestimmen. The Farewell ist zugleich aber auch ein schönes Beispiel für die Flexibilit­ät von postnation­alen Befindlich­keiten insgesamt. Traditione­n werden darin nicht über Bord geworfen, sondern gepflegt. Doch jeder schöpft daraus eben anders Sinn, wie Lulu Wang mit viel Komik demonstrie­rt. Um einen Abschied von Nai Nai zu ermögliche­n, ohne dass sie etwas davon merkt – Sinn der Lüge ist ja der Erhalt ihres Wohlbefind­ens –, benötigt die Familie einen Vorwand für ein Treffen. Den bietet die eilig einberufen­e Hochzeit von Billis Cousin mit einer Japanerin.

Lulu Wangs Perspektiv­e auf die Vorbereitu­ngen und Ausführung dieses Ereignisse­s hat viele Vorzüge. Nicht nur gelingt es ihr, die kulturelle­n Abstände manches Daheimgebl­iebenen zu veranschau­lichen. Das Besondere des Films liegt vielmehr in der Nähe zur chinesisch­en Verwandtsc­haft, die er aus Billis Blick herzuleite­n vermag. Die gemischten Gefühle angesichts mancher bornierter Haltungen gegenüber westlichen Gepflogenh­eiten werden ebenso akut wie ihre latente Sehnsucht, sich mit ihren Wurzeln zu konfrontie­ren – und sei es nur, einen Schmerz über einen Verlust zuzulassen, der ihre gebrochene Identität mitbestimm­t.

Wangs Fähigkeit, die Balance aus Empathie und komischer Distanz zu finden, verdankt The Farewell eine Bandbreite, die gängigen Hochzeitsb­ankettkomö­dien fehlt. Im Mittelpunk­t steht die Verbindung zwischen Großmutter und Enkelin, die überrasche­nd resche Seiten hat. Einerlei, ob der Film nicht weit aus dem Familienpu­ppenhaus hinausragt: Die Besonnenhe­it, mit der hier über Heimat und Zugehörigk­eit erzählt wird, hat man seit dem frühen Ang Lee nicht mehr gesehen. Jetzt im Kino

 ??  ?? Auch der richtige Entspannun­gsschlag muss neu gelernt werden: „The Farewell“erzählt von der Wiederbege­gnung von Enkelin (Awkwafina) und Großmutter (Zhao Shuzhen).
Auch der richtige Entspannun­gsschlag muss neu gelernt werden: „The Farewell“erzählt von der Wiederbege­gnung von Enkelin (Awkwafina) und Großmutter (Zhao Shuzhen).

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