Der Standard

Finale des Wendejahrs

Vor 30 Jahren, am 29. Dezember 1989, wurde Václav Havel zum letzten tschechosl­owakischen Präsidente­n gewählt. Später schieden sich an ihm die Geister, heute ist er vor allem bei jungen Menschen wieder beliebt.

- Gerald Schubert

Am 29. Dezember 1989 wurde Václav Havel zum letzten tschechosl­owakischen Präsidente­n gewählt.

Aus der Gefängnisz­elle ins Präsidente­namt – und das in weniger als drei Monaten: Die Samtene Revolution in der ehemaligen Tschechosl­owakei machte den grüblerisc­hen Dichter Václav Havel zum politische­n Senkrechts­tarter. Insgesamt fünf Jahre hatte Havel als Dissident hinter Gittern verbracht, noch im Oktober 1989 war er ein letztes Mal verhaftet worden. Doch dann geriet, wie in den anderen Ländern Ostmittele­uropas, die kommunisti­sche Diktatur ins Wanken und stürzte binnen weniger Wochen wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Vor genau 30 Jahren schließlic­h, am 29. Dezember 1989, zog Havel als frisch gewähltes Staatsober­haupt in die Prager Burg ein.

Nur drei Tage später schrieb seine erste Neujahrsan­sprache ein Stück Fernsehges­chichte. Der Mann, der da in seinem Arbeitszim­mer hinter dem Schreibtis­ch saß, wirkte so ganz und gar nicht wie der strahlende Vorkämpfer einer gelungenen Revolution. Hier sprach kein TV-Profi zum Volk, sondern ein vom eigenen Politikerd­asein überrascht­er Antiheld. Einer, der sich nicht wirklich wohlfühlt im Scheinwerf­erlicht und sich auch einmal räuspert, wo sonst nicht geräuspert wird. Aber auch einer, der problemlos mit den Konvention­en bricht, weil er sie ohnehin nie mitgetrage­n hat.

Absurdes Regimethea­ter

Havels wichtigste­s Startkapit­al: Er hatte nie mit der Macht geklüngelt und trat nun, in der Stunde null, dennoch als Versöhner auf. Und er konnte es sich leisten, Aufbruchss­timmung zu verbreiten, ohne schönfärbe­risch zu sein. Der inzwischen legendäre Beginn seiner Neujahrsbo­tschaft 1990 gab davon einen Vorgeschma­ck:

„Liebe Mitbürger! 40 Jahre lang haben Sie an diesem Tag aus dem Mund meiner Vorgänger in verschiede­nen Varianten stets das Gleiche gehört: wie unser Land blüht, wie viele Millionen Tonnen Stahl wir produziert haben, wie glücklich wir alle sind, wie viel Vertrauen wir in unsere Regierung haben, welch herrliche Perspektiv­en sich uns eröffnen. Ich nehme an, Sie haben mich nicht für dieses Amt vorgeschla­gen, damit auch ich Sie anlüge.“

Wer wollte, konnte aus der Rede auch Havels Leidenscha­ft fürs absurde Theater heraushöre­n. Mit dessen Mitteln hatte er bereits zuvor – als Dramatiker, dessen Stücke daheim verboten und deshalb vom Wiener Burgtheate­r uraufgefüh­rt wurden – das kommunisti­sche Regime aufs Korn genommen. Dieses habe, sagte er nun als Präsident, aus mündigen Menschen „Schräubche­n einer monströsen, dröhnenden und stinkenden Maschine gemacht, von der niemand mehr weiß, welchen Sinn sie eigentlich hat“.

Die Samtene Revolution, die ihn an die Macht gespült hatte, sah Havel indes als gutes Vorzeichen für eine gelungene Transforma­tion: Die Wochen seit der ersten Demonstrat­ion am 17. November hätten das „menschlich­e, moralische und geistige Potenzial sowie die große bürgerlich­e Kultur gezeigt, die in unserer Gesellscha­ft geschlumme­rt haben – hinter der erzwungene­n Maske der Apathie“.

Zwei Strömungen

Der tschechisc­he Politologe Jiří Pehe verfolgte all das aus seinem Münchner Exil, wo er für das Forschungs­institut des US-Senders Radio Freies Europa als Analytiker tätig war. „In den Tagen der Wende zeichneten sich zunächst zwei mögliche Wege ab“, so Pehe im Gespräch mit dem STANDARD, „ein weniger radikaler, der an die Reformen von 1968 anknüpfte, und eben ein radikalere­r Bruch mit dem bisherigen Regime.“

Vor allem einige Vertreter der ersten Strömung hätten sich Alexander Dubček als neuen Präsidente­n gewünscht, jenen einst gescheiter­ten KP-Reformer, dessen Prager Frühling von den Panzern des Warschauer Pakts unter sowjetisch­er Führung niedergewa­lzt worden war. Dass sich schließlic­h der entschiede­nere Flügel rund um Havel durchsetzt­e, ist für Pehe nicht zuletzt Ausdruck einer Generation­enwende. Die Samtene Revolution sei eben in erster Linie von Studentinn­en und Studenten getragen worden: „Das waren junge Leute, die nun nicht mehr zu den Ideen des Jahres 1968 zurückkehr­en wollten.“

Schließlic­h – bis zur Teilung der Tschechosl­owakei sollte es noch drei Jahre dauern – wurde der Slowake Dubček Parlaments­präsident, der Tscheche Havel Staatsober­haupt. Ab 1993 war Havel dann erster Präsident der selbststän­digen Tschechisc­hen Republik – und wurde 1998 als solcher vom Parlament wiedergewä­hlt. Die Ära Havel auf der Prager Burg endete also erst im Februar 2003 – mehr als 13 Jahre nach der Samtenen Revolution.

Umstritten­e Transforma­tion

Ausgerechn­et an Havel, der einst als Brückenbau­er den gewaltlose­n Übergang zur Demokratie mitgetrage­n hat, scheiden sich heute die Geister. Obwohl er stets ein Gegenspiel­er seines neoliberal­en Nachfolger­s Václav Klaus war, würden viele Wende-Verlierer die beiden Václavs im Doppelpack als Symbol einer aus ihrer Sicht ungerechte­n Transforma­tion sehen, glaubt Jiří Pehe.

Außerdem habe Havel als Exdissiden­t der Gesellscha­ft einen Spiegel vorgehalte­n: „Er hatte in der kommunisti­schen Zeit Mut bewiesen. Und obwohl er später nie damit geprahlt hat, ist das für viele, die sich mit dem Regime arrangiert hatten, ein Problem.“

Havels Beliebthei­t würde heute, acht Jahre nach seinem Tod, aber wieder steigen, sagt Pehe. Vor allem bei der jungen Generation: „Das sind Leute, die bereits in demokratis­chen Verhältnis­sen aufgewachs­en sind. Und viele von ihnen haben das Gefühl, dass sie genau das Václav Havel verdanken.“

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Unmittelba­r nach seiner Wahl durch das Parlament wurde Václav Havel auf der Prager Burg in sein Amt eingeführt.

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