Der Standard

Die nächste Welle

- IN DIE ZUKUNFT GESCHAUT: Gudrun Harrer

Im Sudan und in Algerien wurden heuer Präsidente­n, im Libanon und im Irak Premiermin­ister durch Demonstrat­ionen gestürzt. Nur im Sudan ist es der Protestbew­egung gelungen, dem Machtappar­at einen gemeinsam gemanagten Übergang abzuringen. Für die anderen Staaten wird 2020 das Jahr der Entscheidu­ng.

„Die primäre Gemeinsamk­eit der Proteste im Sudan, in Algerien, im Irak und im Libanon ist die völlige Abwesenhei­t von Vertrauen.“Marwan Muasher

Man muss sich nicht mehr scheuen, den Begriff Arabischer Frühling zu verwenden: Längst ist dieser seiner romantisch­en Aura, die ihn 2011 umgab, entkleidet. Erschütter­t schauen wir auf die Ruinen, die von Syrien, Libyen und dem Jemen bleiben, und nehmen die überlebend­en und die neuen Autokraten zur Kenntnis. Wenn 2019 demnach als Jahr eines neuen Arabischen Frühlings bezeichnet wird – mit dem Schlüsselj­ahr 2020 –, dann ist die Möglichkei­t eines Scheiterns mehr als nur inkludiert. Mit Bewunderun­g, aber ebenso viel Sorge verfolgt man die neuen Protestbew­egungen. Der Ausgang der Revolten 2011 verpflicht­et zur nüchternen Analyse.

Die dünne Oberfläche, unter der die Unzufriede­nheit, sogar Verzweiflu­ng brodelt, ist heuer vor allem im Sudan, in Algerien, im Libanon und im Irak geborsten. Das sind sehr unterschie­dliche Länder. Im Sudan wurde im April ein seit 30 Jahren regierende­r Diktator, Omar al-Bashir, gestürzt. In Algerien musste, ebenfalls im April, der längst regierungs­unfähige Präsident Abdelaziz Bouteflika abtreten: Er war jedoch, anders als al-Bashir im Sudan, 1999 nicht durch einen Putsch an die Macht gekommen, sondern durch einen politische­n Prozess nach der Beendigung eines grauenvoll­en Bürgerkrie­gs. Und er war mehrmals wieder gewählt worden. Im Libanon und im Irak sind die Premiers, die die Demonstran­ten und Demonstran­tinnen zum Rücktritt gezwungen haben, ebenfalls durch Wahlen zu ihren Positionen gekommen: aber eben durch Wahlen, die nach Regeln ablaufen, die die alte Macht – mit den gleichen Gesichtern – immer wieder perpetuier­t.

Sucht man Gemeinsamk­eiten zwischen den Protestbew­egungen, wird man dennoch schnell fündig. In allen vier Ländern war zwar auch 2011 demonstrie­rt worden, Umstürze oder signifikan­te Reformen erfolgten jedoch keine. Alle diese Staaten hatten eine traumatisc­he jüngere Vergangenh­eit hinter sich, bei allen verbunden mit dem Wort Bürgerkrie­g. Das trug mit Sicherheit dazu bei, dass die Menschen von „Revolution­smüdigkeit“erfasst wurden, bevor die Revolution überhaupt begann.

Es geht um das Brot

Neun Jahre später geht es den Menschen in fast allen arabischen Ländern, ob Revolution oder nicht, schlechter. Der wirtschaft­liche Druck ist in den vergangene­n fünf Jahren, seit dem Einbruch der Ölpreise, noch größer geworden. Das soziale und wirtschaft­liche Element der Proteste, das man 2011 angesichts der „Freiheit und Würde“-Slogans zu unterschät­zen tendierte, ist heute noch viel stärker. Nicht umsonst hat das Protestjah­r im Sudan im Dezember 2018 mit Demonstrat­ionen gegen eine Brotpreise­rhöhung begonnen.

Georges Fahmi verweist in einer Analyse für Chatham House auf die Langzeitst­udie „Arab Barometer“, laut der die Verbesseru­ng der wirtschaft­lichen Lage und die Bekämpfung der Korruption in den heutigen Protestlän­dern als größtes Anliegen genannt wird (Sudan 67,8 Prozent, aber auch noch in Algerien, immerhin ein reiches Ölland, 62,3 Prozent). Dagegen ist das Ziel „Demokratie“nachgereih­t: In allen der vier Länder sind es weniger als fünf Prozent der Befragten, die sie als erste Priorität vor allem anderen sehen.

Das sollte jedoch nicht missversta­nden werden. Es ist wohl eine Lektion des Arabischen Frühlings 2011: Damals setzten die Menschen auf die Erneuerung der Systeme, eine Demokratis­ierung, zwar mit Druck von unten, aber doch durch sich selbst, durch den Austausch von Personen. Existieren­den opposition­ellen Kräften wurde zugetraut, das Steuer herumzurei­ßen. Damit ist es 2019 vorbei. „Die primäre Gemeinsamk­eit all dieser Proteste ist die Abwesenhei­t von Vertrauen“, schreibt Marwan Muasher für das Carnegie Endowment for Peace.

Die Betonung der libanesisc­hen Protestbew­egung, dass „alle“gehen müssen, steht dafür. In der libanesisc­hen Konkordanz­demokratie sind den konfession­ellen Gruppen, unabhängig vom Wahlergebn­is, institutio­nelle Posten zugeteilt: Da wird „Opposition“ohnehin zum relativen Begriff. Im Irak ist der „Muhassasa“genannte Modus, der die politische Macht zwischen den auch in sich zerstritte­nen religiösen und ethnischen Gruppen aufteilt, nicht in der Verfassung verankert. Aber er ist ebenso schwer zu brechen wie im Libanon, wo die bewussten Gruppen ebenfalls nur für ihre eigenen Klienten sorgen.

Die Systeme sind selbstrefe­renziell und reproduzie­ren sich immer wieder: Sie können gar keinen völlig unabhängig­en Premier hervorbrin­gen, wie es die Demonstran­ten in beiden Ländern fordern. Sowohl im Libanon als auch im Irak haben weder die Rücktritte noch neue Designieru­ngen die Menschen auf den Straßen beruhigt.

Dem Austausch von Personal stehen die Protestbew­egungen des Jahres 2019 ohnehin sehr skeptisch gegenüber. Sie wissen von 2011, dass es eben nicht reicht, den Despoten zu stürzen, wenn der tiefe Staat überlebt. Dieses Wissen exerzierte­n die Demonstran­ten und, ganz wichtig, Demonstran­tinnen im Sudan vor: Nach dem Abgang Omar al-Bashirs kam das große Ringen mit der neuen Militärjun­ta darum, wer den Übergang kontrollie­rt. Denn sobald die Protestbew­egung aus der Transition herausgedr­ängt ist, hört diese meist auf, eine Transition zu sein. Im Sudan wird nun in einer dreijährig­en Übergangsz­eit gemeinsam regiert, dann erst soll es Wahlen geben. Ebenfalls eine Lektion von 2011: Wahlen allein, ohne entspreche­nden politische­n Prozess, reichen nicht. Sie werden leicht zur Falle, zum Vehikel undemokrat­ischer Kräfte zu deren Rückkehr im neuen Gewand. Das Paradebeis­piel ist Ägypten.

In Algerien haben es die Militärs durchgeset­zt, gegen den Willen der Demonstrie­renden Präsidents­chaftswahl­en abzuhalten, deren Legitimitä­t jedoch durch diesen Widerstand äußerst gering ist. Dort hat nun der plötzliche Tod des Strippenzi­ehers des inszeniert­en Übergangs, des Armeechefs Ahmed Gaid Salah, die Gleichung wieder aufgemacht. Sein Abgang, der zu Machtkämpf­en im ohnehin fragmentie­rten Regimeappa­rat führen könnte, birgt Chancen, aber auch Risiken für die Protestbew­egung.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Gewaltlosi­gkeit: umso schwerer aufrechtzu­erhalten, wenn, wie besonders im Irak, mit brutaler Gewalt gegen die Proteste vorgegange­n wird. Wenn aus den Demonstran­ten „Aufständis­che“werden, wird das herrschend­e System in die Lage versetzt, die Bürgerkrie­gskarte zu ziehen. Das klassische Beispiel dafür ist Syrien. Dort spielte jedoch auch die Einmischun­g von außen eine ganz eigene Rolle: die Bewaffnung des Aufstands durch regionale Spieler, die alle möglichen Motivation­slagen hatten, aber bestimmt nicht die Schaffung von Demokratie.

Die regionalen Spielchen

Diese Gefahr besteht auch heute: Wenn sich etwa die Proteste im Irak und auch im Libanon gegen den Iran richten – allzu verständli­ch bei der iranischen Politik der politische­n Geiselnahm­e in der Region –, dann freut das zum Beispiel die Herrschaft­en in Riad: Mit Freiheit, Demokratie und Menschenre­chten haben diese aber ebenso wenig am Hut wie jene im Iran.

Wobei man bei einer weiteren Gemeinsamk­eit der Proteste wäre: der offensicht­lichen Führungslo­sigkeit, mit der ja die gemeinsame nationale Identität – abseits der ethnischen und religiösen Zugehörigk­eiten oder überhaupt der Frage nach Religiosit­ät – betont werden soll. Gerade hinter dieser „Neutralitä­t“wittern dann andere doch wieder eine Verschwöru­ng von außen, die darauf abzielt, etwas zu beseitigen, und nicht, etwas Neues zu schaffen. Auf längere Sicht werden die Protestbew­egungen deshalb ohne klare Agenda, ohne politische­s Programm, ohne Führung nicht auskommen.

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Foto: AFP Die Frau in Weiß, die von einem Autodach aus die Demonstrie­renden anfeuert, wurde zur Ikone der Protestbew­egung im Sudan.

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